Authentischer Klangthrill

Kammermusik kompakt 2023: Sieben Konzerte in drei Tagen mit dem Chiaroscuro Quartet, 30. Juni – 2. Juli 2023

«Chiaroscuro» bedeutet Helldunkel. Es ist ein Fachbegriff, den man eher mit der Malerei der Spätrenaissance und des Barocks als mit Musik in Verbindung bringt. Dennoch hat das in London ansässige Streichquartett ihn zu seinem Markenzeichen gemacht: es nennt sich Chiaroscuro Quartet. Dass es dafür gute Gründe hat, liegt auf der Hand. So wie ein Maler mit Helldunkel-Kontrasten einem Bild mehr Ausdruck, Dramatik und räumliche Tiefe verleiht, so steigern die Mitglieder des Chiaroscuro Quartets – im übertragenen Sinn – ihr leidenschaftliches Spiel. Sie reizen das Helldunkel aus, indem sie Klänge aufflackern und in dunkle Abgründe stürzen lassen. Das Spiel auf Darmsaiten und historischen Instrumenten lässt erahnen, was etwa Beethoven zu seiner Zeit den Hörerinnen und Hörern zugemutet haben muss.

Pianisten, Orchester und Kammerensembles gibt es mittlerweile etliche, die sich mit historischen Instrumenten angefreundet haben. Im Bereich des Streichquartett-Spiels ist die historische Aufführungspraxis immer noch eine Seltenheit.

Helldunkel als Statement
Alina Ibragimova (Violine), Pablo Hernán Benedí (Violine), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion (Violoncello) haben das Neuland für sich zur neuen Heimat erkoren. Und sie tun es mit überwältigendem Erfolg. Ihre Gesamteinspielung der sechs Streichquartette Opus 18 von Beethoven ist auch für das Chiaroscuro Quartet ein Meilenstein. Wer einmal auf den Geschmack seiner unmittelbaren Spielart gekommen ist, der wird mit den glatt gebügelten Interpretationen anderer Ensembles nicht mehr warm. Die Helldunkel-Lesart des Chiaroscuro Quartets ist dennoch alles andere als plakativ oder forciert. Die drei Streicherinnen und ihr Streicher verzichten bewusst auf überrissene Tempi, auch wenn diese zuweilen für besonders authentisch gehalten werden. Lieber setzen sie auf kantige Zuspitzungen und variantenreiche Wiederholungen, auf Witz und Geistesblitz im Zusammenspiel. Wie man hier den lebendigen Leib der Instrumente zu spüren bekommt und das «musikalische Material», das bearbeitet, seziert und ausgeleuchtet wird, ist atemraubend. Es entfaltet sich ein kammermusikalischer Suspense, dem man bis zum Schlussklang nicht entkommt.

Alle Nuancen des Originalklangs
Das Chiaroscuro Quartet, dessen Mitglieder aus Russland, Spanien, Schweden und Frankreich stammen, ist seit 2005 gemeinsam unterwegs. Die vier spielen auf Instrumenten von 1570 bis 1780, mit historischen Bögen und Darmsaiten und dies so überraschungsreich, frisch und klug, dass sich das Ensemble in kürzester Zeit einen erstklassigen Ruf erarbeitet hat. Die Perfektion des Chiaroscuro Quartetts liege darin, alle Nuancen des Originalklangs zu nutzen und daraus die Interpretation zu formen, lobt die Kritik. Durch seine Interpretationen würde die Wahrnehmung der einzelnen Instrumente, die Farben der Klänge, der Auftritt und das Gewicht der Motive völlig neu wahrgenommen.

Das lässt sich nun selber überprüfen: Das Chiaroscuro Quartet kommt – im Rahmen von «Kammermusik kompakt» – erstmals nach Ernen. In sieben Kurzkonzerten in drei Tagen wird es reichlich Gelegenheit erhalten, Zeugnis von seiner Interpretationskunst abzulegen. Die Tour dʼHorizon umfasst Höhepunkte seines Repertoires, darunter Streichquartette von Haydn, Schubert («Rosamunde»), Mozart, Mendelssohn und vierstimmige Fantasien von Purcell. Natürlich dürfen auch Streichquartette von Beethoven nicht fehlen, darunter das Quartetto serioso und die Nummer Drei aus den  «Rasumowsky-Quartetten». Und: das vierte Streichquartett aus dem erwähnten Opus 18, mit dem das Chiaroscuro Quartet auf seinem Album brilliert. Beethoven ging übrigens damit hart ins Gericht. Er fand, in dem Quartett sei «viel natürliche Empfindung» zu finden, aber «wenig Kunst». Wirklich? Entscheiden Sie selbst!

Geschrieben im Dezember 2022, von Marianne Mühlemann

Hier geht es zu allen Konzerten von Kammermusik kompakt 2023, 30. Juni – 2. Juli.

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