Bimmelnde Schafe in der Kirche St. Georg

Die Musik des diesjährigen Composer in Residence, Christian Mason, ist von einer sinnlich flirrenden Qualität. Inspiration für seine Klänge findet er in Ernen auf den herbstlichen Wiesen.

Auf den Wiesen am Dorfrand von Ernen herrscht zurzeit Konzertsaison. Die von den Sommerweiden zurückgekehrten Kühe und Schafe bimmeln mit ihren Glocken eine regelrechte Alpensymphonie. «Das sind genau die unintentionalen Klänge, die ich in meiner Musik zu erzeugen versuche», sagt der diesjährige Composer in Residence, Christian Mason, bei einem gemeinsamen idyllischen Herbstspaziergang. Unintentionale Klänge – also (scheinbar) unbeabsichtigte Klänge.

Mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: «Am liebsten würde ich bei der Uraufführung meines Auftragswerkes in der Erner Kirche ein paar bimmelnde Schafe ins Ensemble integrieren.»

Der 39-jährige Christian Mason gehört zu den schillernden Sternen am Komponistenhimmel. Gastprofessor an der Universität in Cambridge, Ernst von Siemens-Förderpreisträger, eingeladener Komponist bei den grossen Musikfestivals, so beispielsweise 2013 beim Lucerne Festival: Noch nicht einmal 40-jährig hat Mason bereits den Gipfel des Parnass’ – den Heimatberg der Musen – längst erklommen.

Nun weilt er mehrmals für einige Wochen als Composer in Residence im Musikdorf Ernen und arbeitet an einem Werk, das im August 2024 in der Pfarrkirche St. Georg uraufgeführt wird. Viele Noten hat Christian Mason von der Auftragskomposition noch nicht komponiert. Fest steht erst ein Arbeitstitel «Landscape With Figures» und die Besetzung – dieselbe wie bei Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps, also Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier.

«Es reizt mich, für eine Besetzung zu komponieren, die eine nicht ganz so lange Tradition mitbringt», sagt Mason. Wie das Werk letztendlich klingen wird? Das entscheiden die Musenküsse auf dem Parnass Ernen in den nächsten Monaten. Eine Idee hat Mason jedoch schon: Er möchte einzelne Musiker*innen ums Publikum positionieren, die eine Klangwolke erzeugen, in der sich dann die Interpret*innen auf dem Podium bewegen können.

Musikalisch interessieren den gebürtigen Londoner nämlich fliessende Klänge, die nicht in eine bestimmte Richtung weisen. «Ich probiere, musikalisch einen Raum zu kreieren, den das Publikum mit den Ohren durchwandern kann.» Dabei ist ihm wichtig, dass die Hörer*innen eine unmittelbare emotionale Verbindung mit seiner Musik herstellen können.

Seine atmosphärische farbige Musik beschreibt Mason selbst wie einen Herbstwald voll unterschiedlicher Farbtöne, die man nicht alle im Detail wahrzunehmen braucht. Der berühmte britische Musikkritiker Paul Griffiths nennt Masons Musik «leuchtender Zusammenklang» und schwärmt vom verströmenden Licht und Glanz seiner Musik.

Was den Komponisten zurzeit beschäftigt: Die Reflektion von Zeit und dem Zeitempfinden beim Hören von Musik: «Was wäre Un-Zeit, wie kann ich musikalische Ewigkeit erzeugen?» Diese Herausforderung stellt er sich unter anderem beim Komponieren des Auftragswerks für das Musikdorf.

In Ernen liebt Christian Mason das Flanieren zwischen braungebrannten Walliser Häusern.  Vor wenigen Tagen sah er auf dem Eggishorn zum ersten Mal im Leben einen Gletscher. Verschwindende Ewigkeit. Wie sein Stück, das in 10 Monaten in Ernen uraufgeführt wird.

Wer nicht bis zum August 2024 warten kann: Am kommenden Samstag, 21. Oktober, um 20 Uhr, spielen Studierende der Musikhochschule HEMU Valais-Wallis Christian Masons Streichquartett Tuvan Songbook (2016). Der Komponist wird im Tellensaal Ernen anwesend sein.

Tags darauf um 14 Uhr gibt es ein weiteres Konzert – und auch hier hat eines der Stücke einen starken Wallis-Bezug: Das Streichquartett spielt die «Drei Stücke» von Igor Strawinski, die dieser bei seinem Aufenthalt in Leysin und Salvan, im Unterwallis, komponiert hat. Der Eintritt für beide Konzerte ist frei.

Ernen, 18. Oktober 2023, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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