Das Göttliche berühren

Unter diesem Motto stand das sonntägliche Konzert, das wie gewohnt in der Kirche St. Georg in Ernen stattfand – und der Abend war etwas ganz Besonderes. Zwei himmlische Darbietungen standen auf dem Programm: Das Streichquintett D-Dur KV 593 von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und die Visions de l’Amen für zwei Klaviere von Olivier Messiaen (1908-1992). Sie haben es sich ja selbst zuzuschreiben, die beiden meisterlichen Pianisten Alasdair Beatson und Paolo Giacometti, die für die musikalische Leitung der Reihe «Kammermusik plus» verantwortlich zeichnen. Denn beide Werke waren höchst anspruchsvoll.

Was Olivier Messiaen 1943 zu Papier gebracht hat, ist aussergewöhnlich und verstörend. Dieses komplexe Werk des französischen Komponisten, Organisten und Ornithologen verlangt jedem Interpreten alles ab. Und auch dem Konzertpublikum. 7 Visionen von «Amen» hat er in Musik umgesetzt, zum Beispiel «Amen de la création», «Amen de l’agonie de Jésus» oder «Amen du désir». Es sind ungewöhnliche und kraftvolle Tonfolgen.

Die Werke Messiaens sind in sich geschlossene Welten, die unermesslich reich und vielfältig sind. In tiefer Versenkung finden die Zuhörenden ein faszinierendes Innenleben, wie etwa beim «Amen de la création»: der eine Pianist schlägt die eher tieferen Tasten an, der andere die höheren bis ganz hohen, und es tönt zuweilen so, als würden zwei Hölzer aufeinander geschlagen. Die Höhen und Tiefen nähern sich an, bis es vollbracht ist: die création, auf die ein Amen angestimmt wird. Die Aufgaben der Klavierstimmen werden weiter so beschrieben: das eine Instrument ist für die Thematik und die Virtuosität zuständig, das andere für die Klangfülle und emotionale Gestaltung. Für den Laien ist diese Zweiteilung der Musikalität schwer auszumachen, alles tönt aussergewöhnlich und rhythmisch anspruchsvoll.

Olivier Messiaen wuchs in einem Klima von Poesie und Märchen auf (die Mutter Dichterin, der Vater Englischprofessor), und war schon als Kind äusserst kreativ und verspielt. Als tief gläubiger Katholik wurde er vom Göttlichen geführt. Dort holte er seine Inspiration, aber auch in der Natur, die sich dem Göttlichen anschliesst. Und dann sind da die Vögel, die ihn nicht losliessen. Ihm wird zugeschrieben, dass er mehrere hundert Vogelrufe unterscheiden konnte. Und so ist es nicht erstaunlich, dass ein «Amen» den Engeln, den Heiligen und dem Gesang der Vögel gewidmet ist. Und hier liefen die beiden Pianisten Alasdair Beatson und Paolo Giacometti zur Höchstform auf: das vorgegebene Tempo war atemberaubend und vor allem der Italiener hatte in den hohen Tönen eine gefühlte Ewigkeit das Gezwitscher der Vögel zu spielen, und es war einem schleierhaft, wie man so etwas durchhalten kann. Man hätte glauben können, die Hände seien ihm abgefallen. Aber er hatte noch zwei «Amen» zu spielen…. «Visions de l’Amen» für zwei Klaviere war eine Auftragskomposition mitten im 2. Weltkrieg, während die Deutschen Paris besetzt hielten. Und so erhält diese eindringliche Musik, die wohl niemanden unberührt gelassen hat, in ihrer Bedeutung eine zusätzliche Dimension.

Zuvor konnte man in das Streichquintett D-Dur KV 593 von Wolfgang Amadeus Mozart eintauchen. Auch diese Musik ist himmlisch, vollkommen, klanglich warm und einlulled. Das Cello, die beiden Geigen und die zwei Bratschen halten eine Art Dialog ab, was wiederum an einen Austausch von Vogelgezwitscher erinnern konnte. Dieses in seiner künstlerischen Form hervorragende Werk ist eine der letzten Kompositionen Mozarts und gilt als Neuanfang einer neuen Schaffensperiode. Gerade erst vollendet, lud er im Dezember 1790 seinen Freund Joseph Haydn zum Kammermusikabend mit anschliessendem Dîner ein, sozusagen als «Adieu», denn Haydn reiste am folgenden Tag nach London. Sie sollten sich nicht wiedersehen. Mozart starb ein paar Monate später.

Die fünf Streicher und Streicherinnen sowie die zwei Pianisten erfüllten mit diesen beiden Werken die Kirche St. Georg mit vollen und reichen Klängen und bildeten einen Höhepunkt am diesjährigen Musikfestival. Und weil die Bratschistin Lilli Maijala und die Geigerin Maria Włoszczowska ihre dunkle Kleidung gegen farbenfrohe Röcke ausgetauscht hatten, hat sich auch das garstige Wetter zurückgezogen. Es folgten einige Sonnentage.

Ernen, 12. August 2021, Madeleine Hirsiger

Zurück