Das hinausgezogene Ende der Musikwochen in Ernen. Ein Glücksfall.

Es gibt wohl nichts, was an der Corona-Pandemie gut wäre. Gar nichts. Auch nicht auf dem kulturellen Parkett. Zahllose Veranstaltungen mussten auf unbestimmte Zeit verschoben werden, Agenden kamen arg durcheinander, so auch im Musikdorf Ernen. Akrobatische Übungen des Intendanten Francesco Walter waren gefragt, um das Programm dauernd anpassen zu können. Und auch die ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins musste vom Juli auf Oktober verschoben werden, was sich aber als Glücksfall herausstellen sollte. Denn die übliche musikalische Darbietung nach der Versammlung entwickelte sich in diesem Jahr zu einem unverhofften Mini-Festival.

Martha von Castelberg (1892–1971) – die Grossmutter von Brida von Castelberg – war eine begabte Musikerin und Komponistin. Die Enkelin Brida, die es zusammen mit ihrem Ehemann fertig gebracht hat, das Restaurant St. Georg am Dorfplatz wieder zum Laufen zu bringen, kümmert sich mit der Stiftung um ihren Nachlass und liess im Tellensaal zwei Lieder-Zyklen ihrer Grossmutter vortragen, ergänzt mit Liedern von Schubert. Was für eine Aufführung, dargeboten von vier Schweizer Sängerinnen und Sängern (Maya Boog, Susannah Haberfeld, Remy Burnens, Äneas Humm und Riccardo Bovino am Klavier). Ein bereichernder und emotionaler Auftakt für den Sonntag, der uns weitere Highlights bieten sollte.

Am Sonntagmorgen dann das atemberaubende Klavierspiel vom russischen Mehrfach-Preisträger Sergey Tanin, der mit seinen 24 Jahren einmal mehr zeigte, was er kann, und uns zeitweise den Atem nahm – mit Beethoven, Schubert und Rachmaninow.

Am Nachmittag folgte eine wunderbare Überraschung: ein Streichquartett der Musikhochschule in Sion, das aus vier jungen Künstlerinnen und Künstlern aus der Masterklasse bestand – wickelten uns ziemlich schnell um den Finger. Engagiert und musikalisch auf hohem Niveau, bezauberten uns der in Berlin geborene Won-Ho Kim und Catherina Lee aus Australien, beide an der Violine, der Franzose Etienne Lin, Viola und die Deutsche Jasmin Mai am Violoncello. Won-Ho Kim gab als erster Geiger den Takt an, sein intensives Spiel war sein Leben, und er liess sich keineswegs irritieren, als seine Brille, die etwas lose auf der Nase sass, ihm übers verschwitze Gesicht rutschte bis unter das Kinn – und dann eben nicht zu Boden fiel. Das Programm begann mit einem Werk von Mozart, das dieser mit unglaublichen 14 Jahren komponierte, gefolgt von Anton von Weberns Sechs Bagatellen, die der Komponist 1913 schrieb und uns hör- und gefühlsmässig alles abverlangte. Denn hier ging es nicht um harmonische Melodien. Vielmehr befanden wir uns auf dem Terrain von äusserst spröder, reduzierter Musik, die auch mal nur aus einzelnen Tönen oder «unreinem» Streichen auf den Saiten bestand. Das alles bildete aber ein faszinierendes Ganzes. Diese Art von Musik verlangt den Aufführenden alles ab: Konzentration und Präzision, denn man kann sich, so das Empfinden, an nichts halten. Das gilt auch für die Musik des 57jährigen Österreichers Thomas Larcher, der als Composer-in-Residence in Ernen eine Auszeit nimmt und sein 2006/2007 komponiertes Madhares für Streichquartett im Tellensaal aufführen liess. Er gab uns aber immer wieder Anhaltspunkte, an denen wir uns kurz orientieren konnten, zum Beispiel, wenn uns ein paar Takte volksmusikartige Klänge in die Ohren drangen. Offenheit war angesagt und das, was man sich gängig unter Musik vorstellt, einfach sausen zu lassen. Dann wird das alles zu einem echten Erlebnis.

Mit dem Quartettsatz c-Moll D 703 von Franz Schubert, der uns wieder auf die uns vertrauten Bahnen lenkte, verabschiedeten sich die jungen Musikerinnen und Musiker von der Musikhochschule Sion und hinterliessen bleibenden Eindruck und Anerkennung. Es war ihr erster Auftritt in dieser Formation, die ihr Dozent Daniel Haefliger (nein, er hat nichts mit dem KKL-Haefliger zu tun) gebildet hat. Man kann nur hoffen, dass mit diesem Streichquartett weitere Begegnungen in Ernen stattfinden werden. Und hier lässt der Intendant Francesco Walter seiner Verantwortung Taten folgen: jungen begabten und engagierten Musikerinnen und Musikern, die noch in der Weiterbildung sind, eine Plattform zu bieten, um sich einem Publikum zu stellen.

Und zufrieden und entspannt entliess der in Köln lebende Pianist und Young Steinway Artist aus Hong Kong Albert Lau das treue Publikum mit Werken von Schubert, Clara Schumann, Philip Glass, Maurice Ravel und César Franck. Auch er hat uns mit seinem meisterlichen Können reich beschenkt: mit kurzen Einführungen zu den jeweiligen Werken und einer einfühlsamen Interpretationsfähigkeit, die grossen Respekt hinterlassen hat. Ein emotionaler Glücksmoment. Und Schuld an diesem Mini-Festival war auch ein anderer Star: ein Steinway-Flügel wurde eingeweiht, gesponsert von der Raiffeisenbank Aletsch-Goms und einer Mäzenin, der nun zum festen Inventar des Musikdorfes Ernen gehört. Was für eine ungeplante und freudvolle Fortsetzung des Musikfestivals, das eigentlich Mitte September offiziell zu Ende gegangen war.

Ernen, 12. Oktober 2020, Madeleine Hirsiger

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