Das Schatzkästlein «Musikdorf Ernen»
Es ist ja nicht so, dass man der vielen sommerlichen Musikveranstaltungen überdrüssig wäre, die in unserem Land nach wie vor aus dem Boden spriessen, als würde es bald einmal verboten. Das letzte Beispiel ist wohl Andermatt. Das Bedürfnis ist da und ein interessiertes Publikum pilgert jedes Jahr vorwiegend in die Berge, um sich musikalisch aufzutanken. Die renommierten und finanziell gut betuchten Festivals trumpfen mit grossen Namen auf, bringen Qualität auf höchstem Niveau. Aber das gilt eben auch für die kleineren, die mit bescheidenem Budget stets zur Hochform auflaufen. Dazu gehört ohne Zweifel das «Musikdorf Ernen».
Ernen ist etwas Einzigartiges – als Dorf und als Musikdorf. Hier wird inmitten einer bezaubernden Landschaft klanglich experimentiert und vorzüglich gegessen, hier wechseln sich Heugaden und Speicher mit ehrwürdigen Häusern aus dem 17. Jahrhundert ab. Aus den Brunnen sprudelt kaltes Quellwasser und mitten auf dem grossen, autofreien Dorfplatz steht eine Linde im Zentrum. Und weiter unten die frisch herausgeputzte barocke Pfarrkirche St. Georg – mitten in einem Gräberfeld mit einfachen Holzkreuzen. Hier, in der Kirche, wo der Hauptteil des Festivals stattfindet, werden musikalische Variationen ausgelotet – auch in der klassischen Abteilung – werden gewagte Kombinationen ins Programm aufgenommen und höchst anspruchsvolle Kompositionen aufgeführt. Die Palette ist reichhaltig und für Überraschungen ist gesorgt und offenes Zuhören ist angesagt. Hier kommen begabte und passionierte Musikerinnen und Musiker aus ganz Europa zusammen, um das zum Ausdruck zu bringen, wofür sie leben. Die Kammermusikerinnen und -musiker formieren sich jeweils für drei Konzerte zu einem ad-hoc-Orchester. Jedes Jahr sieht man neue und vor allem junge Gesichter, die sich unter die altbekannten mischen. Und man kommt aus dem Staunen und der Verzückung nicht heraus, wenn im hohen Kirchenraum ihre Musik in unsere Ohren und Seelen dringt. Die Freude am Musizieren ist offensichtlich und hörbar.
Und dann wären da noch die beiden Pianisten Paolo Giacometti aus Italien und Alasdair Beatson aus Schottland, zwei Virtuosen erste Güte, die auch für einen Teil des Programms verantwortlich zeichnen. Und im gleichen Atemzug sind die beiden jungen Schweizer Perkussionisten Fabian Ziegler und Luca Staffelbach zu nennen. Sie hatten einen atemberaubenden Auftritt mit Béla Bartóks «Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug Sz 110», ein Werk, das einst vom Basler Mäzen und Dirigenten Paul Sacher in Auftrag gegeben wurde. Bartók hatte sich nach längerer Bedenkzeit für diese ganz neue Besetzung entschieden. Gott sei Dank, kann man da nur sagen. Was für ein aufregendes Spektakel, wenn die Pianisten und die Schlagzeuger im diabolischen Tempo durch die Partitur hinwegfegen, wenn sich Klavier, Pauken und Xylophon gegenseitig anstacheln, sich ergänzen, aufeinander zugehen. Hoch konzentriert sind die vier Künstler über ihre Instrumente gebeugt, die einen mit ihren flinken 20 Fingern, die andern mit je zwei Schlagstöcken zwischen ihren Händen. Präzise wechseln sich ruhige Abschnitte mit kräftigen ab, mal tönt es tänzerisch leicht, mal besonnen und unheimlich. Eigentlich nicht nahvollziehbar, wie man sowas spielen kann. Aber man kanns! Sie können es!
Für die noch nicht 25 Jahre alten Schlagzeuger Fabian Ziegler und Luca Staffelbach – beide studieren an der Zürcher Hochschule der Künste und besuchen Meisterkurse bei Martin Grubinger – war ihr Bartók-Auftritt etwas Besonderes. Sowohl die Pianisten Giacometti und Beatson und natürlich auch sie hätten dieses Konzert noch nie gespielt. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen sei das gewesen, das Zusammenspiel sehr anspruchsvoll. «Aber wenn man das Glück hat, mit solchen Super-Pianisten aufzutreten, war es für uns etwas einfacher. Wir haben die Luxus-Variante gehabt», sagt Fabian Ziegler. Und die Atmosphäre mit allen andern Musikern sei sehr angenehm und familiär gewesen und Ernen ein toller Ort.
Es war der ungarische Meisterpianist und Klavierpädagoge György Sebök, der 1974 in Ernen die Sommerakademie gegründet hatte. Er sah das Bergdorf im Goms und kam nicht mehr davon los. Er gab zahlreiche Meisterkurse, die von einigen der Pianisten, die heute noch in Ernen auftreten, besucht wurden. Sebök wurde Ehrenbürger von Ernen und erhielt 1996 den Kulturpreis des Kantons Wallis. 1987 rief er ein «Festival der Zukunft» ins Leben – passender könnte der Name nicht sein: Denn die Zukunft ist immer das nächste Jahr, die nächste Ausgabe vom «Musikdorf Ernen», das seit Jahren mit Inspiration, Passion und Offenheit auch für das Unkonventionelle vom Intendanten Francesco Walter geleitet wird. Er steht dafür ein, dass Ernen mehr ist als ein bezauberndes Bergdorf: Nämlich ein Schatzkästlein, dort wo es versteckte, goldene Dinge gibt, über die man sich freut, wenn man sie findet.
Ernen, Freitag, 9. August 2019, von Madeleine Hirsiger