Den Kopf nicht in den Sand gesteckt

Am ersten Juliwochenende begann mit sieben fulminanten Konzerten die 49. Konzertsaison 2022 im Musikdorf Ernen. Da der Pianist Oliver Schnyder krankheitsbedingt absagen musste, sprang kurzerhand ein in Ernen Altbekannter ein. Und dieser wusste zu begeistern.

Oh, wie hätte man am Freitagabend, beim ersten «Kammermusik kompakt»-Konzert, doch am liebsten die Altarschellen genommen, die in der Erner Kirche auf den Stufen unterhalb des Flügels neben Blumen lagen, um beim Applaus die Dankbarkeit und Begeisterung mit Glockengeläut adäquat zum Ausdruck bringen zu können.

Das «Kammermusik kompakt»-Wochenende mit seinen sieben Konzerten innerhalb dreier Tage stand nämlich einige Tage vor der Durchführung noch auf Messers Schneide. Oliver Schnyder, der mit seinem Oliver Schnyder Trio nach Ernen reisen sollte, war schwer erkrankt und musste am Dienstag kurz vor Festivalbeginn absagen.

Was tun? Francesco Walter, Intendant des Festivals Musikdorf Ernen, und sein Assistent Jonathan Inniger steckten nicht etwa ihre Köpfe in den Sand, sondern ihr Ohr ans Telefon. Um fünf vor eins, mitten in der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch, war ein Ersatz gefunden. Der Pianist Dasol Kim, der in Ernen zu den beliebten Stamminterpreten gehört, reiste mit der Violinistin Christel Lee und dem Cellisten Jonathan Roozeman ins Musikdorf.

Auf einigen Gesichtern war zu Beginn des Eröffnungskonzerts am Freitagabend eine leichte Enttäuschung zu sehen. Manche waren von weit her gereist, um das Oliver Schnyder Trio zu hören. Die Enttäuschung verflog jedoch im Nu bei den ersten Tönen des «Allegro moderato» aus Beethovens Klaviertrio B-Dur op. 97. Wie war das möglich? Ein Trio, das nicht einmal einen Namen hat und nur sporadisch gemeinsam auftritt, harmoniert, als würden sie nie etwas anderes machen als gemeinsam zu musizieren.

Intendant Francesco Walter verriet dem Publikum dazu ein kleines Geheimnis. Vor wenigen Monaten haben die Violinistin Christel Lee und der Cellist Jonathan Roozeman geheiratet, nachdem sie schon länger ein Paar waren. Kein Wunder stimmt die Chemie zwischen den Musikern.

Dasol Kim eröffnete auch schon in den letzten Jahren den langen Musiksommer in Ernen, im letzten Jahr gemeinsam mit dem Rolston String Quartet, vor zwei Jahren in derselben Besetzung wie in diesem Jahr. Wiederum entpuppte er sich als Glücksfall.

Spätestens beim Klaviertrio in B-Dur D 898 von Schubert, das als zweites Stück beim Eröffnungskonzert auf dem Programm stand, war der Fall klar: Da spielte ein Trio auf Weltklasse-Niveau, das die Schönheit von Schuberts Musik in einen transzendenten Bereich zu entrücken wusste.

Das Trio erreichte, was nur begnadeten Musikerinnen und Musikern gelingt: Sie entfachten zugleich ein Gefühl der Erhabenheit ob’s der Vollkommenheit der Schubert’schen Musik und einen leisen Schmerz in der Brust ob’s der Unvollkommenheit der Welt im Vergleich zur Musik grosser Komponisten.

Die Vorfreude auf weitere sechs Konzerte war geweckt. Und wurde am Samstag und Sonntag alles andere als enttäuscht. Ein Höhepunkt reihte sich an den nächsten. Eine Trouvaille: die Sonate für Violine und Violoncello von Maurice Ravel, in welcher der Komponist seine Beschäftigung mit der damaligen musikalischen Avantgarde wie Strawinsky und Schönberg offenlegt, dennoch stets den Ravel’schen Groove und die französische Klangsinnlichkeit beibehält.

Ein gebündelter Sehnsuchtsmoment: das Finale aus Felix Mendelssohn Bartholdys Klaviertrio d-Moll op. 49, worin alle erträumten Abenteuer eines langen Sommers hell aufleuchten. Das Publikum belohnte die kongeniale Interpretation mit frenetischem Applaus.

Mit Wehmut, dass die intensive Konzertserie ihrem Ende entgegengeht, konnte man am letzten Konzert noch einmal in Schubert’sche Klänge von vollkommener Schönheit hineinsinken. Nach dem «Notturno» D 897 vollendete das Klaviertrio in Es-Dur D 929 das «Kammermusik kompakt»-Wochenende. Im letzten Satz hört Schubert nicht auf, die Themen des Klaviertrios wild durcheinanderzuwirbeln. Ihm selbst schien es schwer gefallen zu sein, sich von den überragenden musikalischen Einfällen zu lösen. Die Musik wollte gar nicht mehr enden und endete dann leider doch.

Das Festival Musikdorf Ernen hingegen hat gerade erst gestartet. Noch steht ein langer beinahe endloser Sommer voller Konzerte im Musikdorf bevor.

Ernen, 5. Juli 2022, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

Zurück