Der Engel mit der Trompete
Im Musikdorf Ernen bahnt sich etwas Grosses an. Der diesjährige Composer in Residence, Christian Mason, hat ein fulminantes Werk mit vielen Überraschungen geschrieben. Dieses kommt nun zur Uraufführung.
Christian Mason ist ein Komponist, der sich keine Trennung zwischen der Sphäre der Musik und der restlichen Welt wünscht. «Mich fasziniert ein Komponieren, das die unterschiedlichsten Facetten der Welt in Klänge übersetzt», sagt der 40-Jährige, der als Composer in Residence zwischen September und November 2023 drei Monate im Musikdorf verbringen konnte.
Mit diesen Gedanken steht er in der Tradition eines Gustav Mahler, der ebenfalls inklusive Musik schreiben wollte und sogar die Klänge der Kuhglocken auf der Alm, neben der er sich sein Komponierhäuschen errichten liess, in sein symphonisches Schaffen integrierte.
Welch unterschiedliche in Ernen gewonnene Eindrücke Christian Mason in seinem für das Festival komponierten Stück Figures in a landscape (awaiting eternity) hat einfliessen lassen, bleibt noch geheim. Es wird gemunkelt, dass das Werk einige gängige Grenzen zu sprengen wagt.
Nur so viel sei verraten: Der auf der Aebi-Orgel in der Kirche St. Georg thronende Engel mit Trompete diente Christian Mason als eine der Inspirationsquellen für sein Werk.
Einen Einfluss gibt es dennoch, den Christian Mason bereits im Vorfeld offenlegt: der Komponist Olivier Messiaen. Bereits die Kernbesetzung, die im Uraufführungsstück zum Tragen kommt, ist eine Hommage an den französischen Grossmeister. Diese ist nämlich identisch mit derjenigen in Messieans Quatuor pour la fin du temps: Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier.
Während seiner Zeit im Musikdorf wanderte Christian Mason oft durch die Landschaft. Er durchschritt die Twingi-Schlucht und schaute sich den Aletschgletscher aus nächster Nähe an, von dessen Erhabenheit er beeindruckt war. «In der unglaublich schönen Erner Umgebung verspürte ich ständig die Verlockung, in die Natur zu gehen, statt zu komponieren», so der Musiker, der in London wohnt und als Gastdozent an der Universität Cambridge unterrichtet.
Er widerstand jedoch häufig genug den Versuchungen. Und komponierte ein wuchtiges Stück, das gewiss noch lange nachhallen wird. Einer Verlockung hingegen konnte er in Ernen nur schlecht widerstehen: der freien Sicht auf die Sterne, die man dank der niedrigen Lichtverschmutzung im Musikdorf besonders eindrücklich geniessen kann.
Seine Passion für die Sterne inspirierte Christian Mason schon mehrmals zu Musik. Zwischen den Sternen etwa heisst ein Werk, das er 2018 für Ensemble komponierte. Dieses Stück steht sogar in Verbindung zum Wallis. Der Titel bezieht sich nämlich auf eine Zeile aus Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus, einem Gedichtzyklus, den der Dichter im Wallis auf Papier brachte.
Zeit zum In-die-Sterne-gucken bleibt Christian Mason beim diesjährigen Ernen-Aufenthalt kaum. Seine Frau und sein 11-jähriger Sohn sind ins Musikdorf mitgereist. Die Lieblingsbeschäftigung des Sohns: Fussballspielen. Am kommenden Dienstag, 6. August, organisiert dieser auf dem Erner Fussballplatz um 14.30 Uhr einen Plausch-Match. Alle Fussballbegeisterten sind dazu herzlich eingeladen. Vielleicht wird das eine Inspirationsquelle für ein nächstes Werk von Christian Mason.
Die Uraufführung von Christian Masons Ensemble-Stück Figures in a landscape (awaiting eternity) findet innerhalb der Reihe Kammermusik plus am Samstag, 3. August, um 18.00 Uhr in der Kirche St. Georg satt. Es lohnt sich, bereits einige Minuten früher in Richtung Kirche zu spazieren.
Ernen, 2. August, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)