Der Schotte, der Italiener und all die andern

Es ist eine einzigartige Einrichtung, dieses Musikfestival in Ernen. Jedes Jahr wird das einem von neuem bewusst. Es ist bei der diesjährigen Ausgabe nicht nur die Corona-Krise, die es nicht erlaubt, von Normalität zu reden: was hier die musikliebhabende Gemeinde über zwei Monate hinweg zu hören bekommt, ist über dem, was uns meistens im Konzertsaal geboten wird.

Es ist dieses Fieber, das diese Spitzenmusiker aus aller Welt zu Höchstleistungen antreibt, dieses miteinander Musizieren, aufeinander eingehen, auf eine bescheidene Art, weit weg von egozentrischen Haltungen, nur der Musik zugetan. Es ist die totale Spielfreude, das gegenseitige Anfeuern, miteinander auf der Zielgerade über die Linie wetteifern, hin zum Finale. Die Bogen der Streicher sinken zu Boden, die Bläser atmen hörbar aus, der Pianist muss zuerst seine Hände von den Tasten lösen. Es ist vollbracht. Das Publikum weiss nicht mehr, wo ihm das Herz steht, das Klatschen ist voller Begeisterung. Und das alles in der Barockkirche St. Georg im Gommer Bergdorf Ernen.

Es sind der Italiener Paolo Giacometti und der Schotte Alasdair Beatson, zwei meisterliche Pianisten, die das Programm «Kammermusik plus» zusammen mit dem Intendanten Francesco Walter erfunden haben, und man merkt schon, dass sie ihren Spass hatten, sich bei der Wahl des anspruchsvollen Programms aber auch herausgefordert gefühlt haben.

Da war zum Beispiel das Klaviertrio Nr. 3 f-Moll op. 65 von Antonín Dvořák (1841–1904), das uns ab und zu mit in die Tiefe zog. Intensiv, komplex, düster, ja fast gewalttätig ist dieses 1883 entstandene Werk und von einer beachtlichen Länge von ca. 40 Minuten. Man kann es vielleicht besser verstehen, wenn man weiss, dass Dvořák damals eine schwere Zeit durchlebt hatte. Der Tod seiner Mutter und die schwierigen finanziellen Umstände der Familie machten ihm zu schaffen. Wie gut gibt es doch die Einführungen des Musikwissenschafters Rolf Grolimund auf dem Netz, der uns jeden Abend an die verschiedenen Werke heranführt und dem Laien zusätzliche Informationen liefert. Es waren Alasdair Beatson am Klavier, und die Schweizer Künstler Esther Hoppe an der Violine und Christian Poltéra am Cello, die uns auf eine unglaublich emotionale Reise geschickt haben. Man war erledigt, aber irgendwie glücklich.

Oder da war zum Beispiel Ludwig von Beethovens Klaviertrio D-Dur op.70 Nr. 1, das auch «Geistertrio» genannt wird. Als begeisterter Shakespeare-Kenner funkte ihm dieser ab und zu in seine Werke rein. Als Beethovens Freund Carl Czerny das Klaviertrio hörte, nannte er es «schauerlich und geisterhaft», es erinnere ihn an den Geist aus «Hamlet». So kam das Klaviertrio zu seinem Namen, wie uns der Pianist Paolo Giacometti vor der Aufführung erklärte. Mit dabei waren die Schweizer Cellistin Chiara Enderle Samatanga und die südkoreanische Geigerin Suyeon Kang, die virtuos zusammenspielten.

Und da war zum Beispiel das Quintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello B-Dur op. 34 von Carl Maria von Weber (1786–1826). Dieses Quintett hat uns nicht hinuntergezogen, es hat uns in die Höhen geschleudert, wo wir oft den Atem anhalten mussten, weil uns die Luft fehlte, was dem aussergewöhnlichen Klarinettenkünstler Matthew Hunt aus England nie passierte, auch wenn man sich fragte, wie er das mit seinen Lungen macht, ob er eventuell vier davon hat, wenn die schnellen Passagen nicht enden wollten, die hohen und die tiefen Töne aufeinanderprallten, als wären es zwei Instrumente. Einfach atemberaubend. Er war sozusagen der Hahn im Korb, hatte aber nicht viel zu lachen (dafür hätte er ja auch gar keine Zeit gehabt), denn er hatte es mit vier jungen, mehrfach ausgezeichneten Streicherinnen zu tun. Da war wieder Chiara Enderle Samatanga, die mit ihrem Cello immer ein bisschen mit der Klarinette schäkerte, die miteinander im Zwiegespräch waren. Und wie das Quintett aufeinander achtete, wieder Suyeon Kang als erste Geigerin, daneben die hervorragende Maria Włoszczowska aus Polen und in der Mitte sass die Finnin Lilli Maijala mit ihrer dunklen Bratsche. Durch das Engagement und die Lebendigkeit entstand ein bezaubernder Dialog. Was für eine Augenweide, was für eine Aufführung auf höchstem Niveau. Am Abend dann ein Nachschlag draussen auf dem Dorfplatz. Die Formation traf sich nochmals mit Mozarts Quintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello A-Dur KV 581. Und zusammen mit der Video-Projektion an der Mauer des Rathauses von Julien Nonnon ergab sich nochmals ein Hör- und Sehvergnügen der ganz besonderen Art. Das zahlreich anwesende Publikum war einmal mehr begeistert. Wie wird man da oben verwöhnt. In jeder Hinsicht.

Ernen, 8. August 2020, Madeleine Hirsiger

Zurück