Der Zauberer und die Verführerin

Wenn in Ernen um 18 Uhr von Westen her die Sonnenstrahlen die heiligen vier Damen auf der linken Seite in der Pfarrkirche St. Georg noch goldener erscheinen lassen als sonst, und wenn am Flügel dem Pianisten der Takt ins rechte Bein schiesst und sich die Ferse ohne Anstrengung auf und ab bewegt, dann ist nicht Barockmusik angesagt, sondern Jazz. Ein Crossover-Ensemble mit einer klassischen Sopranstimme.

Die Kirche ist zum Bersten voll, mit einem offenen, begeisterungsfähigen Publikum, das sich auf dieses aussergewöhnliche Programm einlassen will. Um es vorweg zu nehmen: Es war ein beglückender Sonntagabend, dieses Stelldichein zwischen dem renommierten südafrikanischen Charl du Plessis-Trio und der international gefeierten Sopranistin Rachel Harnisch, einer Walliserin.

Da sass er also am Flügel, seinem zweiten Ich, der smarte und gut gelaunte Pianist Charl du Plessis, der zusammen mit Werner Spies am Kontrabass und Peter Auret am Schlagzeug, schon lange zu einem der Highlights im Musikdorf Ernen zählt. Ein Ensemble, das es in sich hat. Mit einer Selbstverständlichkeit wird ein klassisches Thema intoniert, um es dann swingmässig in die Abteilung Jazz hinüber zu führen. Wie von Zauberers Hand gesteuert, gleiten die langen Finger des Künstlers über die Tasten, vom untersten bis zum obersten Ton kommt die ganze Klaviatur zum Einsatz, ausgeklügelt, einfühlsam, leichthändig. Spies und Auret auf der Lauer, ihre Einsätze sind haargenau. Sie werfen sich die Bälle zu und jeder hat seine Zeit, um zu zeigen, was er kann. Und sie können viel – sehr viel. Es ist eine Freude, ihnen zuzuschauen und zuzuhören. Und wenn dann in dieses musikalisch hochstehende und harmonisierende Trio die volle, warme Sopranstimme von Rachel Harnisch dazukommt, ist die Fusion perfekt. Die Sängerin, eine erhabene Erscheinung mit graziler Haltung, elegant in ein schwarzes Paillettenkleid gehüllt, lullt uns mit ihrer Darbietung ein, verführt uns. Es gibt kein Entrinnen. Man kann ihr zusehen, wie sie die Töne formt, die den Kirchenraum erfüllen, diese musikalische Kraft, die sich entfaltet und uns berührt. Und hat man schon mal eine Spitzensängerin gesehen, die immer wieder die Arme verschränkt und es keinen Einfluss auf die Tongebung hat? Nein?

Auf 13 Stücke  konnten wir uns also freuen. Verdi, Mozart, Puccini, Wagner, Bizet, dann James Milton Black, Kurt Weil, Franz Lehàr. Mit witzigen Worten führt Charl du Plessis, der sich auch über sich selbst lustig machen kann, die Musikstücke ein und jedes Mal, wenn Rachel Harnisch einen Auftritt hatte, sagte er: „Und nun begrüssen Sie herzlich Rachel Harnisch“. Gelächter, entspannte Stimmung. Sie sang unter anderem aus der Oper „Don Giovanni“, die „Habanera“ aus „Carmen“ – oder „Meine Lippen, die küssen so heiss“ aus Franz Lehàr „Giuditta“. Der klassische Gesang verschmolz mit dem Stil des Trios. Und es brauchte nicht viel, sich an diese spezielle Darbietung zu gewöhnen, schnell war man im Sog des Klangs, des Rhythmus, der Präsenz der drei Musiker und der Sopranistin. Und dem Trio fiel es auch nicht schwer, zum Beispiel Richard Wagners Pilgerchor aus der Oper „Tannhäuser“ in ihrer Manier aufzubereiten, mit klar erkennbarem Wagner-Motiv. Und dann das überraschende Ende des Abends: Rachel Harnisch sang Jazz! Für kurze Zeit wähnte man sich in einem Jazz-Lokal in New York. Die Leichtigkeit des Seins.

Klassik und im weitesten Sinne Jazz: diese explosive Mischung in der Pfarrkirche St. Georg in Ernen: es war purer Genuss und Spass zugleich und macht Lust auf mehr.

Ernen, 23. Juli 2019, Madeleine Hirsiger

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