Die Newcomer sind angekommen
Jedes gut geführte Unternehmen ist bedacht darauf, sein Sortiment stets zu überprüfen und zu erneuern. Denn nur so kann es immerdar florieren. Man geht also immer wieder auf Einkaufstour. Das gilt zum Beispiel auch für die Verantwortlichen von Musik-Festivals, die auf Entdeckungsreisen gehen müssen, um das Publikum jedes Jahr mit einem neuen Programm und noch frischen Talenten überraschen zu können.
So zogen also auch die Co-Intendanten Francesco Walter und Jonathan Inniger in die weite Welt hinaus – doch mussten sie nur bis nach Luzern. Denn dort fand Ende 2023 die «Orpheus Swiss Chamber Music Competition» statt, wo das Intendanten-Duo einige Entdeckungen machte. Sehr zur Freude des Publikums.
Angefangen hat dieses Jahr das Programm «Newcomers» mit dem Trio «Zeitgeist», das nicht etwa für aktuelle Modeströmungen steht, sondern dem Versuch geschuldet ist, den Geist der Komponisten im Kontext ihrer jeweiligen Zeit einzufangen. Die drei Musiker (Timothy Crawford, Geige, Martin Egidi, Cello, Martin Jollet, Klavier) sind mit ihrer Formation in der Schweiz beheimatet. Sie machten sich die Pandemie zu Nutze und studierten die drei Klaviertrios von Robert Schumann ein, was zur Grundlage ihrer gemeinsamen musikalischen Beziehung wurde. Als Trio spielten sie zum Auftakt am Freitagabend – Johannes Brahms, das Klaviertrio Nr. 3 c-Moll op. 101, mit einem ungemein schwelgerischen Walzerthema –, um tags darauf gleich nochmals die Bühne mit Musik von Brahms zu betreten.
Es war dann das Klavierquartett Nr. 2 A-Dur op. 26, das sie – zusammen mit der Bratschistin Alinka Rowe – im Tellensaal intonierten und für einen markanten Auftritt sorgten. Diese Musik erfasste uns mit voller Wucht. Die Komplexität dieser Komposition wurde sofort klar und zog uns in ihren Bann: es blieb kein Ton auf dem andern, keine Musik zum Zurücklehnen, keine zum Nachsummen, jeder der vier Sätze geprägt von neuen Überraschungen, die man einfach auf sich einwirken lassen musste, denn sie waren nicht verfolgbar. Kaum klebte man sich an einen Tonverlauf, landete man in der Sackgasse, denn die Unberechenbarkeit des Spiels, die leidenschaftlichen Ausbrüche des Klaviers, das intensive Zusammenspiel der vier Instrumente, führte uns immer wieder ins Labyrinth. Die vier Musizierenden liefen zur Hochform auf. Es war ein grosses Vergnügen und der liebe Johannes Brahms zeigte einmal mehr, mit was man bei ihm zu rechnen hatte.
Und dann das Trio Basilea. Schon der Anblick der Musizierenden war eine Augenweide: schwarze Hosen und weisse, extravagante Blusen. Es waren eigentlich drei Engel: die brasilianische Cellistin Marina Martins, die Sanfte, der rumänische Geiger Laurentiu Stoian, der Besonnene und die Schweizer Pianistin Zofia Grzelak, die Quirlige. Sie begannen ihr Konzert mit dem 1792 geschriebenen Klaviertrio Es-Dur von Joseph Hayden – ein Komponist, der immer wieder unterschätzt werde, fand auch der Meisterpianist Sir András Schiff. Wie wahr. Haydn, der diese Musik der ungarischen Fürstin Esterhazy widmete, war auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, was sich in harmonischer Kühnheit, geistreichen Überraschungen und weltentrückten Traumzuständen niederschlug. Frisch und begeisternd war diese Interpretation.
Von Paganinis 24 Capricen für Violine solo liess sich der heute 39-jährige Schweizer Komponist Jannik Giger für sein «Caprice» inspirieren. Dem Werk liegt eine innere Spannung, ein ungebändigter, befreiender Ausdruck zugrunde. Mit Konzentration und viel Spielfreude trug das Trio Basilea dieses zeitgenössische Werk vor.
Und dann Dmitri Schostakowitsch, der sein Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67 im Kriegsjahr 1944 in weniger als zwei Wochen zu Papier brachte. Ein beeindruckendes Werk, voller Traurigkeit und Schmerz. Wie der Stimme beraubt, beginnt die Musik mit einer Flageolett-Melodie des einsamen Cellos, dem die gedämpfte Geige und das dunkle Bassregister des Klaviers im Kanon folgen. Das Werk berührt und ist kaum in Worte zu fassen. Ernsthaft, konzentriert und fast andächtig, interpretierte das Trio Basilea das Werk mit Anteilnahme am Schicksal von Schostakowitsch, der unter dem Stalinistischen Terror litt und auch am Schicksal von seinem jüdischen Schüler, dem Komponisten Benjamin Fleischmann, der an der Front ums Leben kam. Schostakowitsch hatte parallel zum Klaviertrio auch an der Vollendung von Fleischmanns Oper «Rothschilds Geige» gearbeitet. Wohl deshalb sind immer wieder Klänge jüdischer Volksmusik zu vernehmen. Für die Zuhörenden war es eine Zeit zum Innehalten.
Diese drei ca. 25-jährigen Musiker haben uns berührt. Es gelang ihnen mit ernsthafter Leichtigkeit und ohne Anstrengung, uns mit ihrem Spiel zu bezaubern, sympathisch, begabt, einfühlsam und präzise. Und wie sie gegenseitig in Augenkontakt blieben, um Harmonie und Genauigkeiten zu koordinieren – niemand sah sich in einer führenden Rolle!
Und nochmals in Erstaunen versetzten uns drei jungen Franzosen (Thomas Briant, Geige, Eliott Leridon, Cello, Théotime Gillot, Klavier), die sich im Trio Zarathoustra zusammengefunden haben. Sie haben sich mit der Musik der Französin Lili Boulanger auseinandergesetzt, einer Komponistin, die aus einer Musikerfamilie stammte, jedoch schon als Kind kränklich war und bereits mit 24 Jahren verstarb. Ihren frühen Tod 1918 wurde als einer der grössten Verluste der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bedauert. Die aussergewöhnliche Begabung, die sie in höchster Qualität zu Papier brachte, zeigt sich in den wenigen erhaltenen Werken. Mit der Intonierung der Stücke «D’un matin de printemps» und «D’un soir triste» zollte das Trio Lili Boulanger Tribut.
Robert Schumanns Klaviertrio g-Moll entstand im Oktober 1851 in seiner letzten, sehr produktiven Phase. Die Musik ist durchdrungen vom «heiteren, ungezwungenen Wesen» und vom «frischen künstlerischen Geist» des Rheinlands, das Schumann so schätze, wie er seinem Freund Georg Dietrich Otten schrieb. Und an diesem Geiste liessen uns die drei jungen Musiker eindringlich teilnehmen. Der grosse Schlusspunkt setzten sie mit Felix Mendelssohn Bartholdys Klaviertrio Nr. 2 c-Moll. Zuerst düster, kämpften sich die drei Musiker durch die leidenschaftliche Musik, bis in grandioser Geste der erlösende C-Dur Choral durchbrach. Ein unbeschreibliches Erlebnis!
Das französische Trio liess sich von der Figur ‘Zarathustra’ aus Friedrich Nietzsches Philosophie inspirieren: «Zarathustra spricht, aber er tut dies auf eine poetische Art und Weise, die uns ähnlich erscheint wie Musik, in der Ideen auf eine bedeutungsvolle Weise fliessen. Uns gefiel die Vorstellung, dass Zarathustra nur ein Bote ist, der Ideen weitergibt. So sehen wir uns gerne in der gleichen Funktion gegenüber dem Publikum: Wir stehen auf der Bühne, um die Ideen und die Musik der KomponistInnen zu präsentieren. Wir sind die Vermittler.» So liessen sich die drei Musiker im Festivalmagazin zitieren.
Und in diesem musikalischen Kontext haben uns die drei Ensembles ganz verzaubert. Was war das für ein fulminantes, emotionales Schlussbouquet, das den höchsten Erwartungen entsprach und zeigte, was für grossartige Talente auch in Zukunft auf uns warten und uns verzaubern werden. Die Entdeckungsreise der beiden Co-Intendanten hat sich also gelohnt. Und so ist die 51. Konzertsaison im Musikdorf Ernen erfolgreich zu Ende gegangen.
Wir freuen uns aufs nächste Jahr.
Zürich, 14. September 2024, Madeleine Hirsiger
Im Rahmen der Reihe «Newcomers» fand neben vier Kammerkonzerten auch noch ein Klavierrezital mit Giorgi Iuldashevi statt (Foto unten).