Ein neuer Star im Musikdorf Ernen

Seit anfangs Juli glänzt er mit den beiden goldigen Seitenaltären in der Erner Pfarrkirche um die Wette: der fabrikneue und stets gut polierte Bösendorfer 280VC-Konzertflügel.

Die Frage nach einem geeigneten Konzertflügel ist eine Gretchenfrage. Im Musikdorf Ernen wird diese beim gemütlichen «Hengert» nach Konzerten manchmal beinahe so hitzig diskutiert, wie die Frage, ob die traditionelle Gommer Speise «Cholera» mit Äpfeln oder Birnen besser schmeckt. Das Team «Steinway» behauptet, dass nur ein Steinway-Flügel das brillante Spiel der Pianistinnen und Pianisten während der Klavierwoche adäquat transportieren kann. Das Team «Bösendorfer» hingegen schwört auf den warmen, sich nicht in den Vordergrund drängenden Klang der Wiener Konzertflügel.

Für Urs Bachmann, der seit 2008 für die Flügelauswahl im Musikdorf Ernen zuständig ist und als Fachmann für Klaviere weltweit hohe Anerkennung geniesst, ist der Fall klar. Sein Herz hat er an Bösendorfer verschenkt. Wahrscheinlich unwiderruflich. «Am Musikdorf Ernen wird zu einem grossen Teil Kammermusik gespielt. Der in allen Registern runde Klang eines Bösendorfer Flügels integriert sich wunderbar in denjenigen der Kammermusikpartner», fasst Bachmann seine Liebe in Worte.

Auf der Konzertbühne in der Erner Kirche steht ein Bösendorfer Konzertflügel Modell 280VC. Das 280 steht für die Länge von 280cm, das VC für «Vienna Concert». Mit diesem Modell hat sich Bösendorfer vor wenigen Jahren in der Champions League der Flügelbauer zurückgemeldet. «In den 1980er- und 90er-Jahren wollten Konzertpianisten keine Bösendorfer mehr spielen, nun kehren sie zurück auf dieses Instrument und sind begeistert», so Bachmann.

Was zeichnet dieses neue Modell von Bösendorfer aus? Urs Bachmann kommt bei dieser Frage ohne Umschweife ins Schwärmen. Er erzählt vom Resonanzraum innerhalb des Flügels, der überall abgerundet ist und dadurch den Klang nirgends in eine tote Ecke drängt, von der totalen Neukonstruktion des Flügels und vor allem auch von der verbesserten Mechanik im Spielwerk. «Bösendorfer war früher für seine zähe Spielart berühmt. Die Pianistin oder der Pianist sollte jedoch ihre Energie nicht auf die Klangproduktion aufwenden müssen, sondern die Energie in die Gestaltung des Klangs einbringen können», sagt der Klavier-Fachmann.

Der am Musikdorf Ernen aufgetretene Pianist Anton Gerzenberg reagierte beim Einspielen auf dem neuen Bösendorfer dementsprechend: «Das Instrument macht schön mit, was ich will.»

Ziel erreicht.

Bei der Neuentwicklung des Bösendorfer Konzertflügels war die Beibehaltung des «Wiener Klangs» dem Entwicklerteam immens wichtig: «Wie die Wiener Philharmoniker haben auch Bösendorfer-Flügel einen unverkennbaren Wiener Klang. Dem Flügel diesen Klang zu verleihen, war der wichtigste Aspekt», sagt Bachmann.

Es scheint gelungen zu sein. Noch nie in der Geschichte von Bösendorfer wurden so viele Konzertflügel in so kurzer Zeit verkauft. Und dies bei einem gesättigten Markt, da zwischen Ernen und Wladiwostok in jedem Konzertsaal schon mindestens ein Konzertflügel steht.

Seit 40 Jahren arbeitet Urs Bachmann mit dem Pianisten Sir András Schiff zusammen. An das Wochenende «Klavier kompakt» vom 26. bis 28. August 2022 reist Schiff gleich mit fünf verschiedenen Flügeln an. Für jedes der fünf Konzerte ein eigener Konzertflügel.

Auf dem berühmten Bechsteinflügel aus dem Besitz des Pianisten Wilhelm Backhaus (1884–1969) wird der Starpianist etwa sein Beethoven-Programm spielen. «Wenn András Schiff sich an ein Instrument sitzt, will er seine Vorstellungen und Ideen verwirklichen können, ob das mit einem alten oder neuen Instrument ist, bleibt für ihn sekundär», so Bachmann.

In Wahrheit wird András Schiff wohl nur mit vier Flügeln nach Ernen reisen. Einen wird er im Musikdorf nämlich schon vorfinden: den neuen Bösendorfer 280VC. Lange Zeit wollte András Schiff von neueren Bösendorfer Flügeln nichts wissen. Er spielte die alten Bösendorfer Imperial, deren Tonumfang in der Tiefe gegenüber den üblichen Flügeln beinahe um eine Oktave vergrössert ist.

Doch dann kam Urs Bachmann ins Spiel: «Im Konzerthaus in Wien stellte ich bei seinem Einspielen einen neuen Bösendorfer 280VC auf die Bühne. András Schiff ignorierte dieses Instrument zuerst, die Neugier trieb ihn dann doch an das Instrument. Er war begeistert». Bachmann ist sich sicher, dass András Schiff auch vom neuen Instrument in Ernen begeistert sein wird.

Übrigens: Wer die Klangqualitäten des neuen Bösendorfer 280VC in Ernen entdecken will, braucht nicht bis zum Klavierwochenende mit András Schiff zu warten. Das Instrument lässt sich im Musikdorf an zahlreichen Kammermusikkonzerten und bei den Auftritten des Charles du Plessis Trio in den nächsten Wochen bewundern.

Ernen, 17. Juli 2022, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

Bild und Video: Anton Gerzenberg spielt sich ein.

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