Ein Tausendsassa in Ernen

Mit Dominik Barta, Kristof Magnusson und Simon Froehling rockten drei Literaturstars das diesjährige Queerlesen-Wochenende. Bereits zum siebten Mal las Kristof Magnusson in Ernen. Er besucht das Mini-Literaturfestival sogar auch dann, wenn er selbst nicht als Autor eingeladen ist. Zeit für ein Gespräch.

Ein queeres Literaturfestival in einem Walliser Bergdorf? Die Moderatorin Bettina Böttinger kann es auch nach 17 erfolgreichen Queerlesen-Wochenenden im Musikdorf Ernen kaum glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist.

Und wie es möglich ist!
Seit 2007 wird das Festival Musikdorf Ernen jeweils an einem Wochenende zum Mittelpunkt der deutschsprachigen queeren Literaturszene. Und zugleich zum Publikumsmagnet. Auch in diesem Jahr war bei den Lesungen der Tellensaal bis auf den letzten Stuhl besetzt.

Schon beinahe zum Inventar von Queerlesen gehört Kristof Magnusson. Liest er nicht selbst, reist der deutsch-isländische Autor trotzdem ans exquisite Literaturfestival nach Ernen. In diesem Jahr sprang er kurzfristig für Helene Hegemann ein und las einen pointierten Text über Männlichkeit. Voller Humor und Ironie.

Kristof Magnusson, Sie kommen beinahe jährlich ans Queerlesen nach Ernen. Sei es als eingeladener Autor oder als Gast. Was motiviert Sie, dafür die lange Reise von Berlin nach Ernen anzutreten?

Es ist zu 100 Prozent das «queere», das mich nach Ernen lockt. In Deutschland ist queer zu sein oftmals mit der Zugehörigkeit eines bestimmten Lagers verbunden: links und antikapitalistisch. Es ist aber so unglaublich anstrengend, immer recht haben zu müssen.

Ist das queer-Sein in Ernen ein anderes?

In Ernen ist alles viel entspannter. Queer zu sein bedeutet ja nicht unbedingt, einem bestimmten Lager anzugehören. In Berlin ist alles sehr politisch aufgeladen und das queer-Sein eine Gegenkultur. In Ernen hingegen treffen sich ganz unterschiedliche queere Identitäten. Diese Begegnungen bereichern ungemein.

Kristof Magnusson ist ein Tausendsassa. Er schreibt Romane, Theaterstücke, übersetzt Werke aus dem Isländischen, hat in der beliebten Reihe «Gebrauchsanweisung für» den Band über Island geschrieben und vor zwei Jahren sogar ein Buch über die Pet Shop Boys.

Und: Er ist studierter Kirchenmusiker. Diesen letzten Punkt konnte das Publikum erahnen, da Magnusson auf einen zu Beginn der Lesung erklingenden «Jingle» von Radio RaBe hinwies, das die Lesung live übertrug. «Das muss eine Bach-Fuge gewesen sein, nur weiss ich leider nicht welche. Ich werde nun wohl die ganze Lesung darüber nachstudieren, welche es war», sagte er in seiner geistreich ironischen Art.
Bei unserem Gespräch nach der Lesung hat er das Rätsel noch immer nicht gelöst.

Wissen Sie nun, welche Bach-Fuge es gewesen ist?

Nein. Aus der Kunst der Fuge jedenfalls kann es nicht sein.
[Anm. d. Red.: Es war keine Bach-Fuge, sondern der Beginn des Konzerts für zwei Violinen und Streicher in d-Moll BWV 1043, bei dem die beiden Solo-Violinen aber tatsächlich wie in einer Fuge nacheinander einsetzen.]

Schreiben Sie Ihre Romane wie Johann Sebastian Bach Fugen komponiert hat?

Dank meiner Ausbildung zum Kirchenmusiker bin ich mir seit jungen Jahren bewusst, dass eine rigide Form die Kreativität nicht zerstört, sondern erst anspornt. Meine literarischen Texte konstruiere ich deshalb in einer ähnlichen Strenge. Es ist für mich wichtig zu wissen, wohin eine Erzählung geht.

Sie komponieren also Ihre Texte sehr streng?

Ich behandle meinen literarischen Stoff wie Komponierende ihre musikalischen Einfälle. Dabei schaue ich, dass ich mich ebenfalls nicht zu sehr von meinen Themen entferne.

Als Kirchenmusiker ist Kristof Magnusson nicht mehr aktiv. «Ich glaube, dass ich nicht einmal mehr eine Messe auf der Orgel musikalisch gestalten könnte», meint der Autor augenzwinkernd. Verzeihlich, wenn man literarisch so unglaublich viele Talente auslebt.

Eines davon ist das Übersetzen aus dem Isländischen. Im vergangenen Jahr brachte der Schweizer Dörlemann Verlag einen Gedichtband der isländischen Lyrikerin Steinunn Sigurdardóttir heraus, in dem das Sterben des grössten isländischen Gletschers, des Vatnajökull, in Worte gefasst wird. Übersetzer der Gedichte: Kristof Magnusson.

Das Gletscher-Sterben ist auch in der Schweiz ein grosses Thema. Wie erleben Sie den Diskurs in Island?

In Island reichen Gletscher bis an den Rand der Dörfer. Einige Bauern und Bäuerinnen pflanzen ihre Saat direkt bis an den Gletscherrand. Kinder erhalten die Erlaubnis, nur bis zur Grenze des Gletschers zu spielen. Das Verhältnis zu den Gletschern ist also ein sehr intensives. Die Gletscher gehören quasi zum Dorf.

Sehen Sie noch andere Gemeinsamkeiten zwischen Island und der Schweiz?

Beide Länder haben einen hohen Lebensstandard, obwohl sie nicht Mitglied der EU sind. Die grösste Gemeinsamkeit ist aber der Wille zur Unabhängigkeit. Weder die Schweiz noch Island lässt sich gerne hineinreden, was sie zu tun haben.

Ihre Vorfahren gründeten in Reykjavik eine Schokoladenfabrik. Hand aufs Herz, welche Schokolade schmeckt besser: die isländische oder die Schweizer?

Leider, leider, leider die Schweizer Schokolade. Mein Grossvater kam ungefähr in den 1920er-Jahren auf die Idee, Lakritze mit Schokolade zu kombinieren. Eine Kombination, die gewöhnungsbedürftig und ausserhalb Islands kaum zu vermitteln ist.

Welches ist Ihr nächstes literarisches Projekt?

Ab September komme ich in den Genuss eines Stipendiums in der Villa Massimo in Rom. Dort werde ich einen neuen Roman schreiben, aus dem ich dann hoffentlich wieder in Ernen lesen darf.

Ernen, 31. Juli 2023, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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