Gletscher faszinieren. Wie lange noch?

Nicht nur die Gletscher zerfliessen, sondern auch die Photographien von Gletschern. Zur Ausstellung «Faszinierende Gletscher / Glaciers suprêmes» des Programms SMArt (sustainable mountain art). Eine Photoausstellung im Dorfkern von Ernen.

Man könnte es als geradezu ironisch auffassen, dass die heftigen Regenfälle der letzten Tage auch ihre Spuren auf den im Dorf präsentierten Photographien hinterlassen haben. Nicht nur sind die Farben verblichen, teilweise hinterliess der Regen gar ein Muster der Zerstörung. Symbolisch, dass hier die rohe Natur sehr deutlich auf die Kunst – vielleicht das herausragende Merkmal menschlicher Zivilisation – eingewirkt hat. Auf den drei Photographien von Laurence Piaget-Dubuis sind die Spuren von grossen, schweren Regentropfen zu sehen, die das Sujet der Bilder zu kommentieren scheinen: Denn Tropfen auf den heissen Stein sind auch die Schutzplanen, die über den Rhonegletscher gelegt werden, um sein Abschmelzen zu verlangsamen. Die Werke legen den Fokus auf diese eigenartige Kombination aus grauen Tüchern und dem grauweissen Gletischer. Unverzüglich drängt sich die Assoziation mit Leichentüchern auf. (Laurence Piaget-Dubuis: «Mer de drapés 1» / «Drapés 3» / «Drapés et nuage»)

Besonders deutlich sichtbar ist die witterungsbedingte Veränderung an der vielleicht faszinierendsten Photographie: Ein runder Bildausschnitt, auf dem Gletschereis zu sehen ist. Aber nicht das graue Eis, das man sieht, wenn man von oben auf einen Gletscher blickt. Es ist ein faszinierend pures, beinahe mystisch schimmerndes Blau, an dem man sich kaum sattsehen kann. Ein Blau, das man nur in abgelegenen Gletschergrotten sehen kann. Bezeichnend, dass der starke Regen das Bild in ein abstraktes Gemälde von impressionistisch verflossenen Blautönen verwandelt hat. Sinnbildlich haben die Naturgewalten die Farbe aufgelöst, denn: Mit dem Verschwinden der Gletscher, wird auch dieses bezaubernde Blau aus unserer Natur verschwinden.

Die erwähnte Photographie stammt aus der Serie «The Sixth Day» des libanesischen Künstlers Tarek Haddad, der 2019 im Rahmen des SMArt-Programms eine Residenz in Bellwald hatte. Sie ist auf dem Hengert (Dorfplatz) in Ernen neben vier weiteren ausgestellt. Rechts und links von diesem für die Ausstellung zentralen Werk stehen zwei andere Mikro-Ansichten: Einerseits eine faszinierende Nahaufnahme eines Kristalls von Juan Pablo Marìn sowie ein Bild von Cyril Ndegeya, das den Ursprung des Rhone-Seitenflusses Navizence am Zinal-Gletscher zeigt. Denn nicht nur das im Gletscher gespeicherte Wasser steht symbolisch (und ganz praktisch!) für den Ursprung allen Lebens, auch Kristallen werden mystische Urkräfte und eine spezielle Verbindung zur umgebenden Welt nachgesagt.

Vom Kleinen ins ganz Grosse: Optische Kontrapunkte leisten zwei Photographien on der mongolischen Photographin Maralagua Badarch: Eine eindrückliche Welle bestehend aus Gletscher-Eis und eine Berglandschaft, die vom Wind verweht wird – eindrückliche Bilder, die das Erhabene und Kraftvolle der Natur vergegenwärtigen.

Rund um das Kaplaneihaus sowie im Kellergeschoss des Jost-Sigristen-Museums gibt es weitere photographische Kunstwerke zu entdecken, die von der Faszination für Gletscher ausgehen. Dabei wird die Idee des Erhabenen in der Natur, des Grossen, Grossartigen, Unbegreifbaren und beinahe beängstigend Kraftvollen kontrastiert von der aktuellen Bedrohung, der die Gletscher ausgesetzt sind durch den menschengemachten Klimawandel, dem Drang der Naturbeherrschung, dem unaufhörlichen System des «immer mehr». Poetisches kontrastiert Engagiertes in der sorgfältig gestalteten Ausstellung der Kuratorin Maéva Besse.

Die Ausstellung «Faszinierende Gletscher / Glaciers suprêmes» ist noch bis am 12. September in Ernen zu sehen – die vom Regen beschädigten Photographien werden Ende Juli ausgewechselt. Am 27. August um 17 Uhr gibt es eine öffentliche Führung. Das Programm SMArt lädt regelmässig Photograph*innen aus Ländern ein, die ebenso wie die Schweiz grosse Bergregionen haben mit den damit verbundenen Herausforderungen wie Klimawandel, Wassermanagement, Ernährungssicherheit und Migration. In den zahlreichen Residenzen, die seit 2014 ermöglicht werden, ist eine beachtliche Menge an herausragenden Photographien entstanden. Die aktuelle Ausstellung in Ernen ist eine Retrospektive mit dem Fokus auf diejenigen Künstler*innen, die sich dem Phänomen Gletscher aus unterschiedlichen Perspektiven genähert haben.

Ernen, 23. Juli 2021, Jonathan Inniger

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