Halbzeit im Musikdorf

Endlos erscheint der Musiksommer in Ernen. Anfangs Juli wird man von einer ersten grossen Welle erfasst, die einen zu immer neuen Klängen, zu immer neuen Hörerlebnissen führt. Die Brandung lässt sich nirgends ausmachen. Einen Monat später reitet man noch immer auf dem Wellenkamm, doch langsam beginnen sich die Konturen am Horizont abzuzeichnen. Es ist Halbzeit am Festival Musikdorf Ernen. Zeit für ein erstes Resümee.

Der Lockdown hat Dasol Kim zum Rockstar werden lassen. Neuerdings trägt er Rossschwanz und ginge problemlos als Leadgitarrist einer Surf-Rock-Band durch. Glücklicherweise ist er dem Klavier treugeblieben. Gemeinsam mit der Violinistin Christel Lee und dem Cellisten Jonathan Roozeman eröffnete er die 47. Konzertsaison 2020 in Ernen und stand in Energie und Spielfreude der Erwartung an sein Aussehen in nichts nach. Sieben Konzerte an einem Wochenende meisterten die drei jungen Musiker bravourös, die zum ersten Mal gemeinsam als Trio musizierten und hinterliessen dabei im musikalischen Gedächtnis Erinnerungen an Momente von berückender Schönheit.

Unvergessen bleibt etwa der Schwebezustand in archaisch zeitloser Musiksprache, der in Maurice Ravels Klaviertrio in a-Moll durch sensibles Vibrato-loses Flautando-Spiel evoziert wurde. Oder die durch alle sechs Sätze hindurch spürbare, in keinem Moment nachlassende Eleganz und Erhabenheit in Dvořáks Dumky-Trio, dessen Schönheit in der Melodienfindung nur durch einen Komponisten noch gesteigert werden konnte: durch Schubert! Zwei Klaviertrios schrieb der Wiener Grossmeister der Kantilenen. Und mit diesen beiden Klaviertrios spannten Dasol Kim, Christel Lee und Jonathan Roozeman einen Bogen über die drei Tage. Mit dem Klaviertrio in B-Dur endete das erste, mit demjenigen in Es-Dur das letzte Konzert.

Eine Woche trug man die unverkennbare Melodie aus dem zweiten Satz aus Schuberts Es-Dur-Klaviertrio noch als Ohrwurm mit sich herum. Dann entführte einen der junge Jazzpianist Maurice Imhof in gänzlich andere Gefilde. Mit virtuos intonierten Südstaaten-Rhythmen und -Harmonien – eingeflochten in Standards aus dem Repertoire der klassischen Musik – spielte sich der 1996 geborene Zürcher in die Herzen des Publikums und wurde sogleich für ein zweites Konzert engagiert, bei dem er für Charl du Plessis einspringen konnte, der coronabedingt in Südafrika festsitzt.
Um nicht in Quarantäne zu landen, flog das Musikdorf den russischen Pianisten Aleksandr Shaikin schon eine Woche vor seinem Rezital in die Schweiz ein. Die Klavierwoche war in diesem Jahr ganz in russischer Hand. Neben Shaikin spielten noch zwei weitere russische Preisträger des Concours Géza Anda: Varvara und Sergey Tanin.

Den imaginären Resonanzraum, der während vier Abenden mit Klängen aus dem Steinway-Konzertflügel ausgefüllt wurde, modellierte Shaikin zu Beginn seines Rezitals mit zerbrechlichen Tonfolgen aus zwei Klavierstücken von Arvo Pärt. Mit einer schier grenzenlosen Farbpalette bespielte Varvara diesen Resonanzraum zwei Abende später mit Mussorgskys Bilder einer Ausstellung. Farben- und facettenreicher hat man diesen Klassiker der Klavierliteratur selten zu Gehör bekommen. In scheinbar müheloser Überlegenheit manövrierte sich zuletzt Sergey Tanin ebenso durch lyrische wie durch pianistisch schwierigste Passagen. Man kann gespannt sein, welchen Parnass dieser 25-jährige Pianist noch erklimmen wird. Die Einzigartigkeit der Klavierwoche? Jeden Abend kann eine gänzlich andere Persönlichkeit erlebt werden.

Selbst in Coronazeiten büssen die Barockwochen nichts an ihrer alljährlich neu auftretenden Popularität ein. Tritt dann noch eine ewig jugendlich wirkende Starsopranistin wie Nuria Rial auf, ist auch der letzte Platz in der Pfarrkirche St. Georg mit andächtig horchenden Zuhörern besetzt. Enttäuscht wurde man auch in diesem Jahr nicht. Das von Ada Pesch zusammengestellte Aernen Barock-Ensemble versprühte denselben Esprit wie in jedem Jahr und die Nachtigall aus Andrea Stefano Fiorès «Usignolo che col volo» schwirrte einem noch Tage danach mit der Schönheit ihres Gesangs im Kopf herum.
Da kam als Gegenmassnahme die Liederreise für Quarantänegeplagte wie gerufen. Die Sopranistin Rachel Harnisch – von ihrem Heimatort Brig bis nach Berlin ein Publikumsmagnet – sang sich einmal rund um die Welt. Berührend. Fesselnd. Und einfach schön. Und wie so oft lauerte die grösste Entdeckung gleich in der Nachbarschaft: Nie hat man das vom Oberwalliser Adolf Imhof komponierte und zum regionalen Volkslied avancierte «Abschied vom Gantertal» so berührend interpretiert gehört wie von Harnisch. Abschiede fallen so besonders schwer. Von der 47. Konzertsaison im Musikdorf Ernen braucht man sich zum Glück noch lange nicht zu verabschieden. Noch bis Mitte September dauert der endlose Sommer und bis dahin lässt sich noch auf so mancher Welle genüsslich reiten.

Ernen, 5. August 2020, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

Bilder: Frederike van der Straeten und Valérie Giger (Bild mit Aleksandr Shaikin)

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