Heiliger Bimbam!

Das Musikdorf Ernen verlockt und rockt – auch ausserhalb des regulären Konzertbetriebs.

Eine Einladung zum Tanz hätte ich gerne erhalten, an diesem Sonntagmorgen, dem 1. August. Da groovten nämlich die aus dem Kirchturm schallenden Rhythmen wild hin und her. Ja welch heiliger Bimbam! Doch die Leute verliessen bei diesem rassigen Kirchenglockenläuten nicht etwa ihr Haus, um das Tanzbein zu schwingen, sondern versammelten sich ganz andächtig bei der Erner Kirche St. Georg, um den Spielkünsten des virtuosen Carillon-Spielers Beat Jaggy zu horchen. Dieser läutete mit den sieben im Kirchenturm verborgenen Glocken die «Kammermusik plus»-Wochen ein.

In Ernen geschehen während dem endlosen Musiksommer auch ausserhalb des regulären Konzertbetriebs viele exzeptionelle Dinge. Beat Jaggy mit seinen Carillon-Spielkünsten ist da nur eine davon.

Das Erner Jazzurgestein aus Südafrika, Charl du Plessis, etwa schlüpft während seinem Aufenthalt im Musikdorf nicht nur in die Rolle des überlegenen Improvisators, der seine Hände mit einer atemberaubenden Leichtigkeit über die Tasten rauschen lässt, nein, er klappert nebenher die vielen im Landschaftspark Binntal verstreuten Heimklaviere ab und verdingt sich dabei als passionierter Klavierstimmer. Bei ihm erklingen danach nicht nur die Klaviersaiten wohlgestimmt, er lässt sich bestimmt auch für eine Heimimprovisation überreden – über eine Melodie eines Lieblingskomponisten nach Wahl.

Von der bildenden Künstlerin Katrin Ullmann, die sich vor über 25 Jahren in den malerischen Ort Ernen verliebte und nicht mehr fortging, lernte ich früh etwas Wesentliches: In der Barockwoche sind die Proben nicht minder spannend als die Konzerte. So tapse ich leise an einem Morgen in die Kirche, sehe die katalanische Sopranistin Nuria Rial in ihrem Element mit einer jugendlichen Leichtigkeit die von Gold nicht arme Kirche noch strahlender machen und vertiefe mich bei den kurzen Probenpausen in die glänzenden Barockaltäre, die um 1720 in der Werkstatt von Anton Sigristen in Glis entstanden sind. Sind sie nicht zu beneiden, die Heiligenfiguren auf den beiden Seitenaltären, die stets in der ersten Reihe die Konzerte lauschen können?

Der künstlerische Genius bleibt unberechenbar. Manchmal bleiben dessen Offenbarungen selbst den Komponisten verborgen. In einer seiner vorzüglichen Konzerteinführungen hatte es Wolfgang Rathert schon angetönt: In seinem Klavierwerk Mirage op.2 aus dem Jahr 2020 paraphrasiert der Komponist Jean-Sélim Abedelmoula choralartig das Lied «Freudvoll und leidvoll» aus Beethovens Schauspielmusik Egmont op. 84. Eine Stunde nach der Konzerteinführung spielte der «composer-pianist» Abdelmoula vorzüglich sein eigenes Werk Mirage op. 2. Wiederum eine Stunde später sass er im Restaurant Alpenblick vor einer Käseschnitte. Auf sein Beethoven-Zitat angesprochen, wusste er von nichts. Ihm sei beim Komponieren nicht bewusst gewesen, dass seine choralartige Passage auf Musik von Beethoven verweise. Die Inspiration findet seine eigenen Wege. Und im Beethoven-Jahr 2020 flösste Beethovens Genius womöglich vielen Komponistinnen und Komponisten heimlich seine Melodien ein.

Ernen lebt, ja es sprüht im Sommer regelrecht. Das Musikdorf entwickelt dann einen Sog und einen Flow, in die man sich am besten willenlos hineinziehen lässt. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, bei der man spielend leicht mit anderen Konzertgästen wie auch den Musikerinnen und Musiker ins Gespräch kommen kann. Lassen Sie sich diesen elysischen Musiksommer nicht entgehen, kommen Sie nach Ernen!

Saas-Fee, 1. August 2021, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)  

Zurück