Koordinaten fürs Paradies
Gloriose Ensembles, spannende musikalische Entdeckungen und Bilderbuchwetter. Beim Newcomers-Wochenende stimmte einfach alles.
Jahrhunderte lang suchten wagemutige Abenteurer das irdische Paradies, El Dorado, in Südamerika. Vergebens.
Gefunden hätten sie das irdische Paradies weiter östlich, bei 46 Grad Nord, 8 Grad Ost, in Ernen.
Im Musikdorf gibt es nämlich diese magischen Momente, in denen einfach alles stimmt. Solche Momente liessen sich am vergangenen Wochenende reichlich pflücken.
Junge musikalische Talente brillierten an vier Konzerten im Tellensaal und einem Konzert in der Mehrzweckhalle. Dabei verlieh die kräftige Spätsommersonne dem pittoresken Ernen einen beinahe mediterranen Teint. Locus amoenus par excellence.
Fünf Preisträger-Ensembles der Orpheus Chamber Music Competition interpretierten während des Newcomers-Wochenendes nicht nur bewährte Stücke aus dem Klassikrepertoire auf hohem Niveau, sondern bargen auch einige musikalische Trouvaillen.
Das Helix Trio beglückte das Publikum etwa mit Werken von gleich zwei viel zu wenig gespielten spanischen Komponisten – mit dem verführerisch sinnlichen Klaviertrio Nr. 2 in h-Moll von Joaquín Turina (1882–1949) und den eingängig schwelgerischen Cuatro piezas españolas von Tomás Bretón (1850–1923).
Bei solch schöner Musik krähte sogar der Hahn freudig vor dem Tellenhaus. Willkommen im Paradies!
Am Vorabend zirpten die Erner Berggrillen einmütig zu den 12 Visitations from the past von Helena Winkelmann (*1974) – diesjährige «Composer in Residence» im Musikdorf Ernen. Jede einzelne der 9 Bagatellen (3 Visitationen stehen noch aus) reflektiert auf äusserst originelle Weise einen Stil eines berühmten Komponisten, wobei das Trio Zeitgeist leichtfüssig von einer Bagatelle zur nächsten hüpfte.
Nicht nur Grillen und Hühner beteiligten sich am Wochenende akustisch an den Konzerten, einen rollenden Kontrapunkt generierte ein Motorrad inmitten von Rudolf Kelternborns (1931– 2021) geräuschhaftem Streichquartett Nr. 4, was erstaunlich gut harmonierte.
Ohne akustische Schützenhilfe von Draussen interpretierte das Spirea Quartett, das Gewinner-Ensemble der Orpheus Chamber Music Competition 2022, mit viel Schwung Maurice Ravels Streichquartett in F-Dur, dessen zweiter Satz «Assez vif. Très rhythmé» mit so viel Schönheit bestückt direkt aus dem Paradies zu kommen scheint.
Bereits zum zweiten Mal im Musikdorf Ernen zu Gast war das Duo CY:T, bestehend aus der Perkussionistin Chiao-Yuan Chang und dem Walliser Perkussionisten Till Lingenberg. Auf einem eindrücklichen Sammelsurium aus Marimba-, Vibra- und Xylophonen liessen sie das Publikum durch Klangwolken in transzendente Sphären entschweben. Le ciel est ouvert à ceux qui ont des ailes.
Ernen, 11. September 2023, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)