Pilgern wie zu Zeiten von Franz Liszt
Einst pilgerte Franz Liszt durch Ernen. Nur konsequent, dass im Musikdorf diese Tradition weitergeführt wird.
Es gibt nur wenige Dörfer in den Alpen, in denen man sich so gut in alte Zeiten zurückversetzen kann wie in Ernen. Das intakte Dorfzentrum hat den barocken Charme erhalten, auf den Weiden von Niederernen liesse sich problemlos ein Historienfilm aus dem 19. Jahrhundert drehen. Und doch pulsiert und vibriert das Musikdorf im Takt des 21. Jahrhunderts.
Der vergangene Sonntag, 10. August, wurde im Musikdorf kurzerhand als Pilgertag ausgerufen. Pilgern hat in Ernen nämlich Tradition. Am 28. Juni 1835 reiste der Komponist und Klaviervirtuose Franz Liszt mit seiner Geliebten Marie d’Agoult durch Ernen. Seine Tagesroute führte ihn von Gletsch nach Lax, wo er im Hotel «Weisses Kreuz» übernachtete.
Diese Gomsdurchquerung blieb nicht folgenlos für die Musikgeschichte.
Als der Komponist drei Wochen später in Genf ankommt, verarbeitet er die Reiseeindrücke in einem «Album d’un voyageur» – einem Reisealbum mit zwölf Klavierstücken. Etwas mehr als zwanzig Jahre später überarbeitet Liszt daraus einige Stücke und integriert sie in den Schweizer Teil seiner «Années de pèlerinage» – den Pilgerjahren – einer Sammlung von 26 Charakterstücken für Klavier. Die darin enthaltenen Stücke «Pastorale» und «Au bord d’une source» sind ein leiser Nachhall von Liszt’ Reise durch Ernen.
Musikalische Wallfahrt
Das schmucke Ernen präsentierte sich am Sonntag von seiner besten Seite. Gehüllt in prächtigem Sonnenschein war es idyllisch wie zu Liszt’ Zeiten. Zu Fuss und per Bus pilgerte ein erlauchtes Grüppchen am Vormittag zu der Wallfahrtskapelle Erner Wald, wo Alinka Rowe (Viola), Edgar Francis (Viola) und Matthew Hunt (Klarinette) stimmungsvolle Duos und Trios in die Waldeinsamkeit hinein spielten: das berührende «Lament» für zwei Violas von Frank Bridge (1879–1941) etwa, oder ein himmlisch schönes «Prelude, Allegro and Pastorale» für Viola und Klarinette von der überaus talentierten Rebecca Clarke (1886–1979).
Das Angelusläuten der Erner Kirche St. Georg begleitete dabei die zarten Töne.
Die Pilgerreise ging danach der Suone «Trusera» entlang nach Mühlebach zur Kapelle der Heiligen Familie, einem auratischen Ort für das Musikdorf. Hier wurde vor etwa 20 Jahren die Asche des Festivalgründers György Sebők (1922–1999) verteilt, an einem seiner Lieblingsplätze. Chiara Sannicandro (Violine), Edgar Francis (Viola), Allesandro D’Amico (Viola) und Jordi Carrasco Hjelm (Kontrabass) sorgten mit Musik von Reinhold Glière (1874–1956) und Wolfgang Amadeus Mozart für gehörig Transzendenz.
Bewacht vom heiligen Drachentöter Georg nahm die Pilgerreise in der Erner Kirche mit einem Konzert voller religiös angehauchter Werke ihr Ende.
Am Schluss erklang eine Bearbeitung der «Vallée d’Obermann» aus dem «Album d’un voyageuer» von Franz Liszt, die musikalische Umsetzung eines imaginierten Ideal-Tal aus dem Briefroman «Oberman» (1804) von Étienne Pivert de Senancour. Literatur- und Musikwissenschaftler wollen dieses ominöse Tal im Wallis beim Grossen St. Bernhard lokalisiert haben.
Gut möglich, dass sich Franz Liszt bei der Komposition jedoch in ein Ideal-Tal rund 90 Kilometer weiter östlich zurücksehnte: in das Goms mit seinem Juwel Ernen.
Ernen, 12. August, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)