Singender Flügel

Ein wohlklingender Bösendorfer 280VC-Konzertflügel bildet zurzeit das Zentrum des Musikdorfs Ernen. Während der Klavierwoche erwacht er zum prallen Leben.

Eigentlich ist es nur ein totes Stück Holz, das in der Erner Kirche St. Georg momentan einen Ehrenplatz einnimmt. Ein 2.80 Meter langes und 507 Kilogramm schweres Stück Holz. Doch wie lebendig diese tote Materie werden kann, beweisen die Pianist*innen, die in der Klavierwoche auf dem Bösendorfer 280VC ein Rezital spielen.

Wie Glocken erklingt der Konzertflügel im zweiten Satz von Beethovens Klaviersonate op. 110 unter den flinken Fingern der russischen Pianistin Varvara. Diese Glockenschläge erfüllen den gesamten Kirchenraum und läuten zur Hochmesse der Klaviermusik.

Varvara, die 2012 den renommierten Géza-Anda-Klavierwettbewerb für sich entscheiden konnte und in Ernen eine gern gesehene Interpretin ist, widmet sich in ihrem Rezital drei der gewichtigsten Werke der Klavierliteratur: den drei letzten Beethoven-Sonaten.

Passend zum diesjährigen Festivalmotto sind es drei musikalische Meilensteine, die Varvara präsentiert. In Wahrheit sind es aber eher drei Meilenfelsen, welche die Zuhörenden und die Interpretin erklimmen dürfen. Voller rauschender Emphase schwingt sich diese Musik in ungeahnte Höhen, wo lieblich auf dem Felsen eine Loreley zu singen scheint.

Reichlich sind nämlich die letzten drei Beethoven-Sonaten mit cantablen Passagen durchwoben. Der Flügel beginnt durch Varvara zu singen.

Die Klavierwoche am Musikdorf Ernen steckt voller Reize. Während einer Woche kann beinahe jeden Abend eine gänzlich andere künstlerische Persönlichkeit auf der Bühne studiert werden, die dem Konzertflügel ihre eigenen Klänge zu entlocken weiss. In der wunderbar intimen Atmosphäre des Festivals lassen sich dabei mit Gleichgesinnten kontroverse Diskussionen über den Tastenanschlag oder die Tempowahl führen. «War es nicht ein bisschen zu viel rubato in dieser Bach-Interpretation?»

Das nötige Rüstzeug zu beglückenden Diskussionen liefert Wolfgang Rathert – seines Zeichens Musikwissenschaftsprofessor in München – in den Einführungen im Tellensaal eine Stunde vor Konzertbeginn. Er erörtert dabei ebenso erhellend kulturgeschichtliche Zusammenhänge wie Tonartenrelationen.

Und plötzlich leuchtet die Kirche in grellen Farben. Der rumänische Pianist Andrei Gologan entpuppt sich am Bösendorfer-Flügel als Klangmagier, der dem Instrument eine grosse Palette an Farbschattierungen zu entlocken weiss.

Seine Interpretation der viel zu selten gespielten Tänze für Klavier des Armeniers Komitas Vardapet (1869–1935): eine leuchtende Offenbarung. Seine Interpretation der Klaviersonate op. 24 Nr. 3 von George Enescu: ein Fest für die Sinne.

Was für Entdeckungen!

Die Entdeckungsreise geht weiter. Am Mittwoch, 12. Juli, gibt die deutsche Pianistin Schaghajegh Nosrati, die sich bereits im vergangenen Jahr in die Herzen der Konzertbesucher*innen von Ernen spielte, in der Pfarrkirche ein Rezital. Am Freitag beschliesst der Koreaner Tae-Hyung Kim mit einem französischen Programm die Klavierwoche.

Der Musiksommer in Ernen ist aber glücklicherweise endlos.

Das Feuerwerk der Klaviermusik geht im Musikdorf Ernen Ende August in eine zweite Runde. Vom 25. bis 27. August spielen die Pianist*innen Hisako Kawamura, Fabian Müller und Dasol Kim gleich fünf Rezitale an nur einem Wochenende. Im Fokus: das Klavierwerk von Franz Schubert.

Mit Schuberts Musik beginnt der Flügel dann wieder zu singen.

Ernen, 12. Juli 2023, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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