Stich endlich zu, Georg!

Mit der Pfarrkirche St. Georg besitzt das Musikdorf Ernen einen der schönsten Konzertsäle der Welt. Ein Drachenbändiger, 14 Nothelfer und golden glitzernde Heilige treten darin in einen Dialog mit den Musiker*innen.

Stich endlich zu, Georg! In seelenruhigem Gesichtsausdruck hält der heilige Georg an der nördlichen Schiffswand der Erner Pfarrkirche seit 500 Jahren seine Lanze gegen einen furchteinflössenden Drachen gerichtet. Mit den Vorderläufen fixiert sein Pferd das Ungeheuer. Der heilige Ritter bräuchte nur noch zuzustechen, doch er lässt sich Zeit. Seine siegesgewisse Lage will er augenscheinlich noch ein wenig auskosten.

Überlegen gebändigt wird in der Pfarrkirche Ernen nicht nur ein Drache, sondern während des endlosen Musiksommers auch immer wieder ein wohlklingender Bösendorfer-Konzertflügel. Dessen weit aufgerissener Mund faucht dabei keine Wehklagen; vielmehrt verströmt dieser unter den zähmenden Fingern von renommierten Pianist*innen sinnlich verführerische Sirenen-Gesänge.

Eine exklusive Schar an Drachenzähmer*innen reist während des Festivalsommers nach Ernen. In den Kammermusik-plus-Wochen vom 30. Juli bis 11. August werden auf den 88 Zähnen des 507 Kilogramm schweren Ungetüms vier ganz unterschiedliche Pianisten als Kammermusikpartner brillieren: der temperamentvolle schottische Pianist Alasdair Beatson, der distinguierte Italiener Paolo Giacometti, der klangsensibel agierende, von Sir András Schiff geförderte Schweizer Pianist Jean-Sélim Abelmoula und der südafrikanische Wirbelwind Charl du Plessis.

Bei solch einer geballten Fülle an musikalischer Exzellenz brauchen die 14 Nothelfer*innen des zusammenklappbaren spätmittelalterlichen Nothelferaltars kaum angerufen zu werden. Hinter dem Rücken der Pianist*innen können die golden eingerahmten Figuren in stoischer Gelassenheit die Konzerte geniessen – die heilige Barbara kontinuierlich ihren Turm umklammernd, Theodul, beliebter Walliser Heiliger, weiterhin einen kleinen Teufel bändigend.

Ob dieser Nothelferalter tatsächlich einst den Erner Kardinal Matthäus Schiner (1465–1522) auf seinen Schlachten in Norditalien als Talisman begleitet hat, wird wohl nie gänzlich geklärt werden können.

Sicher ist hingegen: Es gibt wenig Beglückenderes, als an einem Sommertag in die Kühle der Erner Pfarrkirche zu treten und barocken Klängen zu lauschen. Mit den beiden prunkvollen barocken Seitenaltären aus der Werkstatt des Einheimischen Anton Sigristen ist die Erner Pfarrkirche als Klangraum für Barockmusik geradezu prädestiniert.

Das Ensemble «Aernen Barock» vollführt diese verantwortungsvolle Aufgabe alljährlich meisterhaft. In diesem Sommer noch zwei Mal. Am Dienstag, 25. Juli, sogar mit einer Premiere. Die Konzertmeisterin Ada Pesch spielt dann nämlich zum ersten Mal in Ernen ein Solokonzert. Am 29. Juli wiederum verführt die britische Sopranistin Julia Doyle das Konzertpublikum mit Interpretationen von Bachs Kantate «Ich bin vergnügt mit meinem Glücke» sowie Händels virtuoser Motette «Silete Venti» – eingerahmt von goldenen Altarfiguren.

Die beiden Seitenaltar-Triptychen aus dem frühen 18. Jahrhundert, bei denen quasi drei Altäre in einen einzigen verpackt wurden, sind eines der eindrucksvollsten Meisterwerke von Anton Sigristen. Hier zeigte der Gommer, der die schweizerisch-alpenländische Barockplastik künstlerisch zur Vollendung brachte, einmal mehr sein grosses Können.

Da nach gutkatholischer Sitte die Frauen und Männer in der Kirche getrennt voneinander sassen, die Frauen links, die Männer rechts, zieren auf der linken Seite vor allem weibliche Heilige das Altar-Triptychon, dasjenige auf der rechten Seite wiederum fast ausschliesslich Statuen männlicher Heiliger.

Hinter einem verschiebbaren Altarbild auf der rechten Seite versteckt sich übrigens wohlbehütet eine Statue des heiligen Valentin. Und ist Ihnen schon aufgefallen, wie weit ins Tal hinunter der Fieschergletscher einst reichte, der am linken Altar auf einem Bild verewigt wurde?

Frauen links, Männer rechts: Eine genderübergreifende Anrufung von Heiligen am gegenüberliegenden Altar-Triptychon schien nicht vorgesehen. Der Erner Altar als Ausdruck einer in Blattgold und Holz gemeisselten göttlichen Ordnung?

Dagegen erklingt spätestens am 4. August unter dem Konzerttitel «Das himmlische Leben» mit Bachs Kantate «Ich habe genug» und Gustav Mahlers 4. Symphonie ein veritabler Kontrapunkt!

Anm. d. Red.: Ein noch stärkerer Kontrapunkt gegen die vermeintliche göttliche Ordnung ist die Literatur-Reihe «Queerlesen», die am 29. und 30. Juli, versteckt vor den Heiligenfiguren, im Tellensaal stattfindet.

Ernen, 24. Juli 2023, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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