Von Klängen verführt

Vier junge Ensembles, vier Werke von jungen Komponist*innen. Mit dieser Formel wurde das «Newcomers»-Wochenende zu einer sinnesfreudigen Entdeckungsreise.

Der Rattenfänger von Hameln würde heute Saxophon spielen. Es gibt nämlich keine verführerische und sinnlichere Instrumentengruppe als die von Adolphe Sax in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte. Der Komponist Olivier Messiaen, ein tiefgläubiger Katholik, mied das Instrument sogar wie der Teufel das Weihwasser und komponierte keine einzige Note für Saxophone, da er ihnen eine «allusion pornographique» nachsagte. 

Der verführerische Bann des Saxophonklangs stellte sich schon bei der ersten gespielten Note der Pulcinella-Suite von Igor Strawinski ein, die das spanische Kebyart Ensemble in der Erner Mehrzweckhalle mit unfassbarer Klangschönheit interpretierte. Mit einer eigens angefertigten Bearbeitung notabene.

Das in Basel ansässige Saxophonquartett war zum zweiten Mal am Musikdorf Ernen zu Gast. Im Dezember 2018 ging es als Sieger der Orpheus Swiss Chamber Music Competition hervor und konnte im darauffolgenden Sommer beim «Newcomers»-Wochenende am Musikdorf Ernen auftreten.

Eine steile Karriere fing an, die in lediglich drei Jahren solche Höhen erreicht hat, das die namhaftesten Komponisten eigens Werke für das Ensemble schreiben.

Einer davon: Jörg Widmann (*1973). Sieben Capricci schrieb dieser den vier jungen Saxophonspielern im vergangenen Jahr auf den Leib, von einem Walzer, über zwei Chorälen bis hin zu einer Zirkusparade. Mit Eleganz und viel Spielfreude interpretierte das Kebyart Ensemble diese wilde Achterbahnfahrt durch verschiedenste musikalische Idiome in Ernen. Und kürzlich hat der Schweizer Komponist David Philip Hefti (*1975) für das Saxophonquartett zur Feder gegriffen.

Unverbrauchte Werke stellten auch die drei anderen Ensembles des «Newcomers»-Wochenendes in den Fokus ihrer Konzertprogramme.

Das Moser String Quartet, Platz zwei des diesjährigen Orpheus-Kammermusikwettbewerbs, liess nach der Interpretation von Joseph Haydns sogenanntem «Vogel-Quartett», ein weiteres Federvieh aus dem Käfig: Papa Haydn’s Parrot. Mit Untertitel: Des Papstes Papagei – ein 2016 komponiertes Werk von Helena Winkelman (*1974), der nächstjährigen Komponistin in Residence am Musikdorf Ernen.

Ob nun Haydn nebst dem Titel «Papa», der ihm seine Musikkollegen am Hof von Esterházy verliehen, auch noch mit der Papst-Tiara gekrönt werden sollte, liess sich aus Winkelmans Stück nicht hinaushören. Was sich jedoch heraushören liess, war eine unglaubliche anspielungsreiche Musik voller Witz und Esprit.

Da wächst die Vorfreude auf die 50. Konzertsaison, in der einige Werke der Schweizer Komponistin auf dem Programm stehen werden. Dabei ein eigens für das Festival Musikdorf Ernen komponiertes Stück für zwei Sängerinnen, zwei Sänger und Instrumente.

Auch der diesjährige Composer in Residence am Musikdorf Ernen, Tom Coult (*1988), war am «Newcomers»-Wochenende mit einem Stück vertreten: Mit seinem Klaviertrio The Chronophage, das er im Jahr 2011 als 23-Jähriger schrieb und das in Ernen mit dem Davidoff Trio nun die Schweizer Erstaufführung erlebte.

Die Musik des Briten entwickelte eine erstaunliche Sogwirkung und trumpfte mit originellen Melodiegirlanden auf, die virtuos durch die Instrumente wanderten.

Wenn Sinnlichkeit auf Traurigkeit trifft, sind wir nicht mehr beim Instrumentenbauer Adolphe Sax in Paris, sondern in Spanien gelandet, einem Land, in dem sich das Blutrot des Todes mit dem feurigen Rot der Leidenschaft symbiotisch zu vermengen weiss: bei der Corrida, der Karfreitagsprozession der schwarzen Madonnenstatue «Macarena» durch Sevilla oder den Filmen des Meisterregisseurs Pedro Almodóvar.

Auf der Klaviatur der ambivalenten Gefühle spielt auch die spanische Komponistin Raquel García-Tomás (*1984) meisterhaft. Das Atenea Quartet, Siegerensemble des Orpheus-Wettbewerbs 2021, interpretierte in berückender Klangsensibilität deren Werk così mostraste a lei i vivi ardori miei aus dem Jahr 2015. Es ist ein Werk wie ein Palimpsest, bei dem die darunter liegende Schicht immer wieder zum Vorschein kommt.

Die darunter liegende Schicht ist in diesem Fall Monteverdis Madrigal «Sfogava con le stelle», dessen Musik immer wieder aufflackert, doch in seiner aufkeimenden Schönheit mit modernen Geräusch-Techniken geschickt erstickt und übertüncht wird.

Den Rattenfänger von Hameln muss man sich wohl als saxophonspielende Spanierin vorstellen.

Ernen, 14. September 2022, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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