Nächster Halt Nobelpreisverleihung?

Beim «Queerlesen»-Wochenende, der kleinen, aber feinen Literaturinsel inmitten des endlosen Erner Musikmeeres, wurde Musik nicht gespielt, sondern imaginiert: Purcells Lamento-Gesänge erhielten auf der kleinen Insel ebenso einen Platz wie Elektropop-Klänge der Pet Shop Boys.

Wäre Madame Nielsen eine Romanfigur, das Buch würde wohl vom Verlagslektorat als viel zu unglaubwürdig abgewiesen. Madame Nielsen hiess einst Claus Beck-Nielsen. 2001 wurde diese bürgerliche Person zu Grabe getragen, der Mensch dahinter lebte aber weiter und setzt seitdem künstlerische Projekte um, die selbst für einen Wes Anderson-Film zu extravagant wären.

Mit Anzug und Krawatte lief Nielsen etwa durch den Irak und durch Afghanistan, um dem US-amerikanischen Imperialismus mit paradigmatischer europäischer Kultur etwas entgegenzusetzen. In der Ukraine wiederum spielte Madame Nielsen nationalistisch eingestellten Soldaten Liebeslieder vor, perfekt geschminkt, ihre Lippen mit besonders rotem Lippenstift angemalt.

Provokation pur!

Die Weltgeschichte hat Madame Nielsen nicht ändern können, nun gelingt es ihr vielleicht mit der Literaturgeschichte. Ihr kürzlich erschienenes Buch «Lamento» schwingt sich sprachlich in ähnlich hohe poetische Lüfte empor, wie es ihr schon mit ihrem Vorgängerroman «Der endlose Sommer» gelungen ist.

Letztlich ginge es ihr vor allem um die Sprache, vertraute sie meinem Sitznachbar nach der Lesung an. Als Kandidatin für den Literaturnobelpreis hat sich Madame Nielsen bei der von Bettina Böttinger fulminant moderierten Lesung gleich selbst ins Spiel gebracht.

Mit ihren virtuos eingesetzten sprachlichen Mitteln evoziert Madame Nielsen eindringliche Bilder, die das Komitee in Stockholm durchaus beeindrucken könnten.

Sie beschwört den einst von Petrarca wirklich oder vielleicht auch nur metaphorisch bestiegenen Mont Ventoux vor dem inneren Auge herauf, lässt ein Zimmer in Paris in Flammen aufgehen und ordnet all dies letztlich der Stimmung der Lamento-Arie «When I am laid in Earth» aus Purcells Oper Dido and Aeneas unter, deren Atmosphäre mit einem Zitat zu Beginn des Romanes imaginär zum Leben erweckt wird.

Was Madame Nielsen der Moderatorin Bettina Böttinger verrät? Am liebsten bleibt sie eine nach allen Seiten hin geöffnete Möglichkeit, sei es im Leben wie auch in der Kunst.

Daniel Schreiber durchlebte in seinem Leben manchmal mehr, manchmal weniger freiwillig die Möglichkeit des Alleinseins. Darüber verfasste er während fünf Jahren einen Essay und publizierte ihn zu einem Zeitpunkt, in dem das Alleinsein auf einen Schlag zum politisch erwünschten Zustand wurde: inmitten der Corona-Pandemie.

Im beinahe bis auf den letzten Platz besetzten Tellensaal konnte man einem hochspannenden, aber zugleich auch intimen Gespräch zwischen der Moderatorin Bettina Böttinger und dem Essayisten lauschen. Schon mehrmals haben sich die beiden zu Gesprächen getroffen, etwa für Böttingers beliebten WDR2-Podcast «Wohnung 17».

Ein bisschen fühlte es sich somit an, als könnte man zwei seit Ewigkeiten Vertrauten auf ihrer Reise in die Tiefen ihrer Seelen begleiten. Zur Diskussion standen Themen wie uneindeutige Verluste, das Leben als queere Person, die Freiheit, die New York bietet, aber auch das freiheitliche Potenzial, das ein einsamer winterlicher Spaziergang am Vierwaldstädtersee haben kann.

Auf eine seelisch beschwerliche Reise musste sich Kristof Magnusson kürzlich begeben. Aufgrund eines Todesfalls in der Familie konnte der Schriftsteller nicht nach Ernen reisen, er wurde jedoch kurzerhand per Zoom von Hamburg nach Ernen projiziert.

In der Reihe «KiWi Musikbibliothek» publizierte er im vergangenen Jahr ein Buch über die Pet Shop Boys. Dieses Pop-Duo war ihm in seiner Jugend queeres Vorbild. Seine erste Gedichtinterpretation vollführte er, wie er im Gespräch mit Bettina Böttinger schmunzelnd anmerkte, nicht etwa im Deutschunterricht, sondern in einem Hamburger Squash-Center, wo das Lied «It’s a Sin» der Pet Shop Boys über die Lautsprecher dröhnte.

Nebenbei erwähnt, traf Magnusson in der Sauna des Squash-Centers damals den leibhaftigen Dieter Bohlen, der für die deutsche Popmusik der 1980er-Jahre, als Sänger des Duos «Modern Talking», eine auch nicht gerade unwesentliche Rolle spielte.

Kristof Magnusson plauderte aus dem Nähkästchen und erzählte viele weitere amüsante Anekdoten aus seinem Leben. So wohnte er etwa eine Zeitlang auf Island, der Insel seiner Vorfahren, in einer WG, in der nur Menschen einziehen durften, die in Liebesfragen enttäuscht wurden.

Die Vermieterin hätte die Präsenz von glücklich Verliebten in ihren eigenen vier Wänden schlicht nicht ausgehalten.

Auch in dieser Lebensphase gaben wiederum die Pet Shop Boys Halt und zwar mit ihren Musikvideos. Insbesondere die von Wolfgang Tillmanns gedrehten Video-Clips seien Trutzburgen für die in Liebesdingen Enttäuschten gewesen, meinte Magnusson.

Ernen erwies sich beim «Queerlesen»-Wochenende abermals als Trutzburg für einen endlosen Musiksommer voller erfrischender und wohltuender kultureller Überraschungen.

Ernen, 1. August 2022, Andreas Zurbriggen (Musikpublizist und Komponist)

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