«Die Realität spielt in meiner Musik mit»

Claire-Mélanie Sinnhuber
Composer in Residence 2025/26

Claire-Mélanie Sinnhuber (*1973) ist eine atemberaubende Gesprächspartnerin. Beim gemeinsamen Nachdenken über Musik regt sie zu Überlegungen an, die über die Musik hinausgehen. Und es genügt eine Frage, ein Gedankenanstoss, um bei der vielseitig gebildeten Musikerin und Komponistin ein Feuerwerk an Assoziationen, Klängen, Erinnerungen, Bildern, Farben und literarischen Verweisen auszulösen – und neue spannende Fragen.

Seit mehr als einem Monat ist sie in Ernen, wo sie im Auftrag des Musikdorfs ein Stück erarbeitet. Sie fühle sich sehr wohl hier, sagt sie. Da sie auf ihre Umgebung, auf Raum, Licht oder Lärm sehr sensibel reagiere, spiele es eine Rolle, wo sie komponiere. Schon als Kind habe sie auf Töne, Klänge und Geräusche körperlich reagiert. In Ernen erlebe sie, wie sie sich öffne und alles aufsauge wie ein Schwamm. «Die Klanglandschaft ist neu, ungewohnt und daher sehr anregend für mich».

Ein Concertino entsteht

Sie arbeitet im Musikdorf an einem Concertino für Klavier, Querflöte, Klarinette, Perkussion und fünf Streichinstrumente. Warum wird das Klavier im Zentrum stehen und nicht die Querflöte, jenes Instrument, das sie konzertreif beherrscht? Das Klavier fasziniere sie und schon lange habe sie davon geträumt, für dieses Instrument ein Konzertstück zu schreiben. Dazu kam, dass sie im Sommer 2025 die Musikerinnen und Musiker des Kammermusikfestes in Ernen traf und den Pianisten Alasdair Beatson spielen hörte.

«Ich war überwältigt von seiner Kunst und wusste augenblicklich, dass ich ein Konzertstück schreiben würde mit ihm als Solisten!» An was für ein Stück denkt sie? «Musik lässt sich nicht in Worte fassen», sagt Sinnhuber. Um darüber sprechen zu können, müsste man Metaphern zu Hilfe nehmen. «Da ist Vorsicht geboten, umso mehr bei einem Werk, das noch in Arbeit ist.» Deshalb rede sie lieber von Transparenz, Klarheit, Tempo und Zeitdauer. Oder aber von den Glockenklängen, dem Geräusch der Kieselsteine oder den Tierstimmen. Das seien plastische Begriffe, die Klänge visualisieren.

Die Tonalität von Ernen

Die Komponistin arbeitet mit «Etüden», musikalischen Gedankenzellen, die zwischen zehn Sekunden und maximal einer Minute dauern. Manchmal steche eine heraus, die sie besonders interessant finde, die nehme sie dann wieder auf. Dann komme es vor, dass sie innehalte, sich zurücklehne und das Notierte überdenke. Das sei auch hier der Fall gewesen. «Erstaunt stellte ich fest, dass ich viele fis-Klänge komponiert habe. Warum? Das musste doch einen Grund haben!» Wie Schuppen sei es ihr von den Augen gefallen: Diese fis-Klänge stammten aus dem Geläut der Kirchenglocken. «Ist das nicht verrückt? Ich habe mich unbewusst der Tonalität von Ernen angepasst! Solche Zufälle bewegen mich zutiefst und lassen mich erschaudern.» Diese Gefühle seien für sie ein Zeichen. «Dann weiss ich, warum ich Komponistin bin! Ich musste etwas daraus machen.»

Gleiches ist nie gleich

Vor etwa fünfzehn Jahren ist Claire-Mélanie Sinnhuber für einen Schreibaufenthalt in die Villa Kujoyama in Kyoto gereist, um sich mit den Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Musik und der traditionellen japanischen Musik auseinanderzusetzen. «Dass im japanischen Klangverständnis Geräusch und Ton zusammengehören hat mich fasziniert.» Und richtiggehend elektrisiert sei sie  gewesen von der Tatsache, dass es in der traditionellen japanischen Musik kein Unisono gibt. «Die Intervalle sind stets leicht verschoben, wenn die Musiker dasselbe spielen, da der Einzelne nie seine Individualität verliert.»

Will heissen: Man spielt aus einer gemeinsamen Geste das Gleiche, aber mit persönlich gefärbten Abweichungen. Sie sei fast etwas erschrocken, so Sinnhuber, als sie festgestellt habe, dass das Fremdartige der japanischen Musik ihr total vertraut sei: Auch in ihrer ästhetischen Erfahrungswelt sind Geräusche und Töne keine Antipoden, sondern gleichwertige Teile eines harmonischen Ganzen. Das sei genauso wie im Gesang des Schwarzkehlchens, dem ersten Vogel, den sie in Ernen gehört hat: «In seinem Gesang vermischt er Töne und Geräusche.»

Das Geheimnis der Polyrhythmen

Gerne komponiert sie in Polyrhythmen, das heisst, in verschiedenen übereinander gelagerten Geschwindigkeiten. Sie erinnert sich an eine faszinierende Stelle in Prousts Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Der Erzähler sitzt in einer Kutsche und sieht auf seiner Fahrt die zwei Glockentürme von Martinville vor dem Fenster verschwinden und wieder auftauchen. Es gehe da um ein optisches Phänomen, sagt Sinnhuber, aber es sei vergleichbar mit den Kirchenglocken. «Jede hat ihren eigenen Takt. Und so entsteht ein Polyrhythmus.»

Die Tatsache, dass die Realität in ihre Etüden hereinplatzt, ohne dass sie sich dessen bewusst ist, gefällt ihr. «Es sind Fundstücke. Wunderbar in diesem Fall ist, dass die Glockentöne nicht temperiert sind. Das A entspricht nicht genau 440 Hz. So findet man in den untemperierten Klängen auch die Schafe und Ziegen, die zu Ernen gehören wie das Plätschern des Brunnens auf dem Dorfplatz. Geräusch und Klang sind Teile eines Ganzen. C’est magnifique!» Sinnhuber beabsichtigt, die gemässigte Klanglandschaft des Klaviers zu erweitern, indem sie einige Töne  des Klaviers mit Hilfe von Patafix, einer Art Klebepads, die sie auf bestimmte Saiten klebt, verändert. «So kann ich nach Belieben einen Glockenton erzeugen.»

Die Suche nach dem Titel

Sinnhuber möchte mit ihren Kompositionen keine Geschichten erzählen. «Auch wenn meine Stücke literarische, botanische oder andere Titel tragen, ist meine Musik nicht illustrativ.» Sie präzisiert, indem sie auf «Correspondances» von Charles Baudelaire verweist. In seinem berühmten Gedichtband erzähle der Autor davon, wie sich uns die Welt durch geheimnisvolle Zeichen und Symbole offenbart. «Dem kann ich nur beipflichten!» Sie erzählt von einem besonderen Erlebnis in Paris.

Auf der Suche nach einem Stücktitel sei sie gedankenverloren durch den Jardin des Plantes spaziert, nachdem sie ihren Sohn in die Schule gebracht hatte. Plötzlich habe sie in der Handfläche etwas Luftig-Leichtes gespürt: die Samen einer Springkraut-Pflanze, das auch als Rühr-mich-nicht-an bekannt sind. «Ich kannte die Pflanze aus meiner Kindheit in den Vogesen. Oft gingen wir mit den Eltern spazieren und amüsierten uns, die Halme zu berühren und die Samen spicken zu lassen.» Im Französischen heisst die Pflanze «L’impatiente de Balfour». «Das war der Name, den ich gesucht hatte. Balfour! Nach dem Botaniker, der die Pflanze entdeckt hatte.»  Ihre Hand, die beim Gehen die Blumen gestreichelt hatte, pflückte die Erinnerung mit der Pflanze aus der Vergangenheit. «Meine nonchalante Hand entsprach meiner Kreation: alte Empfindungen aufleben zu lassen, um daraus ein Werk von heute zu machen.»

Komponieren, ein ewiges Kontinuum

Wenn sie in einen Kompositionsprozess eintauche, sei es für sie jedes Mal ein Mysterium und schier unglaublich, dass das Stück einmal ein Ende findet. Dabei wisse sie intuitiv, welchen Weg sie einschlage – «er führt durch den Nebel in die Klarheit, ins Licht.» Komponieren sei für sie ein ewiges Kontinuum. «Wenn ich eine Idee, einen Traum oder Wunsch in einem Stück noch nicht realisieren konnte, dann arbeite ich daran in einer neuen Komposition weiter.» Im Fluidum ihrer vielschichtigen Klang- und Geräuschwelten ist so alles mit allem verbunden. Auch mit dem Concertino dürfte das so bleiben: Es wird nach der Uraufführung ein Stück Ernen in die weite Welt hinaustragen.

Hier können Sie eine Karte für die Uraufführung am 8. August kaufen

Hier finden Sie alle Konzerte mit Musik von Claire-Mélanie Sinnhuber

Geschrieben im November 2025, von Marianne Mühlemann

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