Der elegante Sprung der Rachel Harnisch zum hohen Cis

Es gibt ja immer wieder Höhepunkte im abwechslungsreichen Musik-Programm im Oberwalliser Bergdorf Ernen, das die Sommergäste vom 1. Juli bis am 11. September in ihren Herzen erfreut. Aber es gibt darunter eben besondere Perlen. Eine davon sind die Jazzkonzerte des südafrikanischen Trios von Charl du Plessis, das nun schon zum dritten Mal mit der aussergewöhnlichen Rachel Harnisch aus Brig auftritt, einer Sopranistin die die Konzert- und Opern-Bühnen der Welt längst erobert hat. Als Jungstar wurde sie gefeiert, Mitte Zwanzig, als sie in Mozarts Cosi fan tutte oder Pergolesis Stabat Mater sang – unter dem Dirigenten Claudio Abbado, mit dem sie eng verbunden war.

Die Barock-Kirche St. Georg, in der so manches golden glänzt, ist bis auf den letzten Platz besetzt und kaum zeigen sich die elegant gekleideten Herren – unter dem schwarzen Anzug tragen sie ein Hemd in den Farben der südafrikanischen Flagge –, wird bereits frenetisch geklatscht. Kein langes Hin und Her, Charl du Plessis setzt sich behende an den Flügel, spreizt seine langen Finger, die sich zielsicher auf die schwarzen und weissen Tasten setzen (und er braucht sie alle), und dann geht’s los: mit der «Blues etude» von Oscar Peterson, «Tenderly» von Walter Lloyd Gross und «It don’t mean a thing» von Duke Ellington. Es ist die pure Lebensfreude, die die drei Musiker (Werner Spies, Kontrabass und Peter Auret, Schlagzeug) verströmen und so perfekt miteinander harmonieren, immer aufeinander schauend und kommunizierend, dass man auf den harten Kirchenbänken fast nicht mehr angemessen sitzen kann. Ein absolut wirkendes Mittel gegen schlechte Laune. Unterhaltung auf höchstem Niveau.

Nach drei Stücken kommt eine engelhafte Person vom Chor her die paar Treppen hinunter, von einer unbeschreiblichen Eleganz, gross, schlank, faszinierend. Ihre High-Heels haben eine anständige Höhe und die helle Haut kontrastiert mit dem fast schwarzen Kleid. Und dann intoniert das Trio Johann Sebastian Bach – beziehungsweise Charles Gounods Bach-Adaption –, klassisch, aber allmählich einfühlend in die Jazz-Rhythmen hinüberführend, und Rachel Harnisch setzt an zum «Ave Maria» – und dann ist es eigentlich schon um uns geschehen. Diese warme Sopranstimme, die einen einlullt, den grossen Kirchenraum füllt. Ein Fest der Töne, der Emotionen.

Das von ihr und den Musikern gewählte Programm zeigt, dass Rachel Harnisch nicht nur die klassische Musik im Blut hat, sondern vielmehr auch die Musik der klassischen Moderne. Und wenn sie Kurt Weills «Je ne t’aime pas» in die Kirche schmettert, nicht gesungen, sondern eindringlich deklamiert, immer sofort gefolgt von der Melodie, dann kommt ihre ganze musikalische Kraft zum Ausdruck. Und völlig aus dem Häuschen gerät das Publikum, als sie bei Léo Delibes’ «Les filles de Cadix» das hohe Cis so mühelos ansteuert und dann noch gefühlte 10 Sekunden auf diesem Ton bleibt, dass es kein Halten mehr gibt. Eine erhabene Künstlerin stand vor uns, die jedes Stück mit Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit interpretiert, und der man zusehen kann, wie sie die hohen Töne formt. Und scherzhaft meint Charl du Plessis: «Ach, ich kann noch höher gehen als Rachel. Meine oberste Taste ist das ganz hohe C». Ein unvergessliches musikalische Ereignis, zugetragen Anno 2022, in der Barockkirche St. Georg zu Ernen.

Ernen, 2. August 2022, Madeleine Hirsiger

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