Der Klang von Ernen

So haben Sie das das Musikdorf noch nie erklingen gehört! Die diesjährige Composer in Residence, Cheryl Frances-Hoad, hat ihre Eindrücke von Ernen in ein viersätziges Streichquartett gepackt. Nun steht die Uraufführung auf dem Programm.

Das Musikdorf inspiriert. Selbst in vermeintlich unscheinbaren Dingen. Auf ihren Spaziergängen durch die Erner Wälder stiess Cheryl Frances-Hoad im vergangenen Herbst auf Flechten, deren Formen sie direkt in den Bann zogen. «Mich faszinierte deren Struktur und wie sich die die kleinen Äste immer weiter verzweigen», so die Komponistin.

Als Composer in Residence durfte die Britin Cheryl Frances-Hoad im letzten Herbst Zeit in Ernen verbringen. Zum Komponieren. Aber auch zum Spazieren, Flanieren und Kontakte knüpfen. Eine für die familiäre Atmosphäre im Musikdorf nicht ganz untypische Anekdote: Als die Erner Malerin Katrin Ullmann von der Flechten-Begeisterung der Komponistin hört, schenkt sie ihr kurzerhand zwei ihrer Flechten-Bilder.

Von Nebel verhülltes Tal

Der Aufenthalt in Ernen hinterlässt Spuren im Œuvre von Cheryl Frances-Hoad. Alle vier Sätze ihres Streichquartetts mit dem Titel «Ernen» sind von Erlebnissen im Musikdorf geprägt. Der erste Satz «Lichens on the forest floor» (zu Deutsch: «Flechten auf dem Waldboden») ist formell wie eine Flechtengebilde aufgebaut, der zweite Satz «Glittering rocks» («Glitzernde Steine») widerspiegelt die Struktur von Kristallen aus dem Landschaftspark Binntal.

An einem ruhigen Oktobermorgen des letzten Jahres blickte die Komponistin von ihrer Erner Wohnung in Richtung Brig. «Ich hörte mir Musik von Arvo Pärt und John Tavener an, da ich ein Stück für ein Programm in der Norwich Kathedrale schreiben durfte, in der Musik dieser beiden Komponisten auf dem Programm stand. Plötzlich wurde das ganze Tal von Nebel eingehüllt. Es war ein mystischer Moment, der mir die Inspiration für den dritten Satz meines Streichquartetts lieferte.»

«Mist engulfs the valley» («Nebel hüllt das Tal ein») nennt Cheryl Frances-Hoad den dritten Satz. Eine sinnlich schöne Musik voll zarter Flageolett-Klänge, Mikro-Glissandi und traumversunkenen Kantilenen.

Der Reiz der Tradition

Schon lange träumte Cheryl Frances-Hoad davon, ein gross angelegtes 20-minütiges Streichquartett zu schreiben, ein Werk, das in der Musiktradition verwurzelt bleibt, aber zugleich darüber hinausweist.

Der vierte Satz «The view from Hängebrücke» («Die Aussicht von der Hängebrücke») wirbelt nicht nur spielerisch Eindrücke vom Gang auf die Hängebrücke bei Mühlebach durcheinander, sondern verweist auch virtuos auf die lange Liste grosser Streichquartett-Kompositionen: So lassen etwa tänzerische Passagen Anklänge an die die Musiksprache Béla Bartóks erkennen.

Ihre Auseinandersetzung mit Ernen und der umliegenden Landschaft fand mit dem Streichquartett noch längst keinen Abschluss.

Mit «Stones of the Sky» schrieb Cheryl Frances-Hoad kürzlich Variationen für Klavier. Die Anregung dazu gaben wiederum Mineralien aus dem Landschaftspark Binntal. Das Klavierstück erfährt seine Premiere im Oktober 2025 in London. «Mein Aufenthalt in Ernen war lebensverändernd», schwärmt die Komponistin.

Ernen inspiriert. Und wirkt nach.

Das Streichquartett «Ernen» kommt am Samstag, 9. August 2025, um 18.00 Uhr in der Kirche St. Georg in Ernen zur Uraufführung. Es spielen: Maria Włoszczowska (Violine), Daniel Bard (Violine), Alinka Rowe (Viola) und Samuel Niederhauser (Cello).

Ernen, 8. August 2025, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)

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