Der ritterliche Meister und seine Gefolgschaft
Sir András Schiff gibt seinen ersten Klavier-Meisterkurs am Musikfestival im Bergdorf Ernen.
Es sind sechs junge hoffnungsvolle, begabte und motivierte Pianistinnen und Pianisten, die von Sir András Schiff nach Ernen eingeladen wurden, um an seinem Meisterkurs teilzunehmen. Schon das ist eine Auszeichnung erster Güte. Alle sind Studierende in seiner Klasse an der Barenboim-Said-Akademie in Berlin.
Die Kurse finden bescheiden in der Mehrzweckhalle statt, vor den beiden Flügeln, die auf einem älteren Perserteppich stehen, Sitzreihen für gut 60–70 Leute. Die Sessel sind besetzt, das Interesse der Festivalbesucher ist gross. Der Tenor der Zuhörenden: man lernt viel und profitiert von Korrekturen und Nuancen, die der Meister seinen Schülern mitgibt. Man gewinnt einen neuen, geklärteren Blick auf die Werke, die man zu hören bekommt.
Es war zum Beispiel die Italienerin Isa Trotta, die uns die 13 Kapitel von Robert Schumanns «Kinderszenen» op.15 vorspielte. Nun tönt das für Musikinteressierte einfach schon wunderbar. Dann aber dann kommt der Meister ins Spiel. Bei der Nr. 8 «Am Kamin» erinnert Schiff an die damaligen Zeiten, wo es eben noch Feuer im Kamin gab – heute auch noch in Ernen – wie er meint, richtiges Feuer, kein elektrisches mit Remote Control. Und dann ist man bei der Interpretation des Stückes, wo eben dieses Feuer musikalisch eine Rolle spielt. Er ist ziemlich zufrieden mit Isa, macht kleine Korrektur, die der Interpretation eine klarere Form geben.
Faszinierend ist, wie die Verbesserungen, die Schiff auf seinem Flügel vorspielt, von den Studierenden mit ihrem Talent und der Freude am Spiel umgesetzt werden können. Sie sind alle Wissbegierig, es brennt ihnen unter den Fingern, sind zum Teil im «Sturm und Drang»-Modus. Es ist ihnen bewusst, was für eine Chance und ein Glück sie haben, sich während ein paar Tage in Ernen weiterbilden zu können – auf höchstem Niveau. Sie sitzen in der ersten Reihe, hören ihren Kolleginnen und Kollegen aufmerksam zu und lauschen dem Verdikt des grossen Meisters.
Er kann dann auch mal streng sein: «Warum klatschen Sie denn alle, das war grässlich, total unbrauchbar» sagt er zum Publikum, das eben eine Interpretation von Beethovens «Appassionata» zu hören bekam. Der junge Mann bekommt Hilfe von András Schiff und eine Schonfrist: er muss in sich gehen und üben. Am nächsten Tage präsentierte er eine sehr akzeptierte Version.
Oder: «Wir haben die oberen Töne, aber es gibt auch die unteren. Es gibt nicht nur eine Lady, es gibt auch einen Gentleman». Es sind Schiffs Bilder, die einem in Erinnerung bleiben und Situationen genau beschreiben können: «Die Musik sagt ‘tomorrow you will have a beatiful day’» oder er nennt das Pedal «The bloody pedal», um die Studierenden auf die Schwierigkeiten des Einsatzes des Pedals aufmerksam zu machen. Aber das wissen sie wohl schon!
Viel zu reden gab auch Mozarts Klavierkonzert Nr. 25 C-Dur KV 503.
Eda Seviniş spielte auf dem einen Klavier den Orchesterpart, ihr Kollege Itamar Carmeli den Solopart. Da hörte auch der Musikliebhaber im Publikum, wie dezidiert und genau das Orchester imitiert wurde und wie der Solist die vielen Läufe eher ungenau, etwas nervös – nach dem Motto, hoffentlich komme ich da durch – mit viel Pedal spielte. Da liess das Auseinandernehmen der Interpretation nicht lange auf sich warten. «You are in trouble» – du hast ein Problem – meinte der Meister, «You missed the tempo. Imagine a dog and his tail. The dog is swinging the tail, not the tail the dog.» Schiff hielt dezidiert fest, dass dieses Stück majestätisch sei, keine kleine Sache. Mozart sei Oper, nicht depressiv, sondern gross und hell. «Gloria», sagt Schiff, «vergesst Gaza, die Ukraine – das ist alles schlimm – aber Mozart kann ja nichts dafür. Mozart ist gnadenlos – und ich bin es auch». Doch man spürt, er sagt das mit aller Liebe für seine Studenten – und immer ist seine Kritik nachvollziehbar und stimmig. Dann fragt er das Publikum, «Verstehen sie, was ich versuche zu erklären? Mozart ist sehr schwierig zu spielen, nicht wie Schostakowitsch oder Mahler, wo alles laut ist.» Es seien die leisen und simplen Stellen, die eben schwierig zu spielen seien. Und Mozarts Musik könne nie in Sprache übersetzt werden.
Und dann bringt er immer wieder den Begriff «traffic jam in the head» aufs Tapet – also einen Stau im Hirn. Er will sagen: denkt nicht zu viel, vertraut eurer Intuition und der Qualität der Komposition.
Es war viel, für alle, aber was für ein Erlebnis: einer der bedeutendsten Pianisten auf der Welt unterrichtet im Bergdorf Ernen seine Meisterschüler und beglückt das musikinteressierte Publikum, das so aufmerksam und still der Veranstaltung folgte, als wären sie in der Kirche beim Konzert.
Sir András Schiff schritt täglich bedächtig und zeitgenau in die Mehrzweckhalle, um viel Zeit und Geduld aufzubringen für das Weiterkommen seiner «jungen Freunde» – wie er sie nennt. So nahbar und zugänglich. Es waren unglaubliche Glücksmomente – für alle.
Geschrieben von Madeleine Hirsiger, Ernen, 17. Juli 2025