Die Entfesselte

Im vergangenen Dezember beendete die gefeierte Sopranistin Rachel Harnisch ihre erfolgreiche Karriere. Mit einer Ausnahme. Dem Musikdorf Ernen bleibt sie in diesem und nächsten Jahr noch treu. Begegnung mit einer tiefgründigen Suchenden.

Als Rachel Harnisch Mitte Februar im Interview mit dem Walliser Boten über ihr Karriereende sprach, kam auch das Musikdorf zur Sprache: «Diesen und nächsten Sommer trete ich noch mit dem Trio Charl du Plessis im Musikdorf Ernen auf. Diese Konzerte sehe ich nicht als Arbeit», verriet sie damals der Journalistin Nathalie Benelli.

Am Morgen nach ihrem Auftritt mit dem Charl du Plessis Trio treffe ich eine entspannt wirkende Rachel Harnisch auf der sonnenverwöhnten Terrasse des Sport Cafés Seiler. Starken Muskelkater vom Singen verspüre sie, sagt mir die Sängerin mit einem Schmunzeln. Also war das Konzert in Ernen entgegen ihrer Annahme trotzdem Arbeit? «Schwerstarbeit», antwortet Rachel Harnisch augenzwinkernd.

Davon spürte man am Abend zuvor nichts. Ein halbes Jahr nach ihrem letzten Auftritt trat Rachel Harnisch wieder vor Publikum. Als sie in einer eleganten schwarzen Robe im Altarraum der Kirche St. Georg erscheint und die Stufen hinunter zu den Musikern des Charl du Plessis Trio schreitet, hat man das Gefühl, dass die Sängerin nie weg von den grossen Bühnen war. Ihre Präsenz, ihre Ausstrahlung füllt bereits vor dem ersten gesungen Ton den ganzen Kirchenraum.

Mit Leichtigkeit und stimmlicher Brillanz zog sie daraufhin das Publikum in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche in ihren Bann – durch ein abwechslungsreiches Programm mit Liedern, Chansons und Opernarien.

Geheimpakt

Gegen Ende des Konzerts erfüllte der Co-Intendant Francesco Walter einen zuvor mit der Sängerin abgesprochenen Geheimpakt. Er öffnete das Kirchenportal sperrangelweit, damit Rachel Harnisch beim Singen der letzten drei Lieder einen Blick in die Weite geniessen konnte. Darauf angesprochen, zieht Rachel Harnisch eine Parallele zu ihrem Leben. «Ich bin nicht gerne eingesperrt.»

Dieses Gefühl des Eingesperrtseins verfolgte die Sängerin während ihrer ganzen Karriere. Der äussere Erfolg war ihr zwar vergönnt, der berühmte Schweizer Musikkritiker Christian Berzins titulierte Rachel Harnisch sogar als «beste Schweizer Sopranistin der letzten 50 Jahre», die Selbstzweifel und der Perfektionismus liess dies jedoch unbeeindruckt. Diese quälten sie während ihrer ganzen Laufbahn.

Nun studiert die Mutter zweier Kinder seit anderthalb Jahren an der FernUni Schweiz Psychologie. Erfolgreich meisterte sie bereits das erste Studienjahr, in dem 40 % der Studierenden scheitern – vor allem der Statistik wegen.

Von den engen Fesseln des Klassik-Metiers hat sich Rachel Harnisch erfolgreich befreit. «In der Psychologie fühle ich mich bereits jetzt mehr zu Hause als ich mich in der Musik je gefühlt habe.» Sie verspüre einen grossen Drang, Sachen zu verstehen und erhalte endlich die intellektuellen Inputs, die sie während ihrer Gesangskarriere so stark vermisst habe.

Die letzte Romantikerin

Bereits 2002 sagte Rachel Harnisch in einem Interview: «Nur zu singen, finde ich total langweilig». Stets war ihr wichtig, den Kontext, in dem ein Werk entstand, zu studieren und zu durchdringen. Rachel Harnisch ist eine Suchende, die sich nicht mit der Oberfläche der Dinge zufrieden gibt.

Im Gespräch erweist sie sich als eine Person mit einem weitgefassten Interessenshorizont, zeigt ehrliche Neugier für ihr Gegenüber und ist eine wunderbare Gesprächspartnerin, um auch über die grossen Themen des Menschseins zu diskutieren, über die Vergänglichkeit allen Seins oder die schwierig zu beantwortende Frage eines geglückten Lebens.

In den Gedichten von Rainer Maria Rilke findet Rachel Harnisch Trost, stark identifizieren kann sie sich zudem mit einer ihrer letzten Opernrollen, die sie auf der Bühne verkörperte: mit Emilia Marty aus Leoš Janáčeks Oper «Die Sache Makropulos».

Diese Figur wird dank eines Zaubermittels ihres in Alchemie erprobten Vaters 375 Jahre alt, will aber noch länger leben. «Erst im Angesicht des Todes erkennt Emilia Marty schlussendlich einen Sinn in ihrem Leben», so Rachel Harnisch. Dass die irdische Existenz erst durch die Gewissheit des Todes ihre Würze erhält, wussten auch die todessehnsüchtigen Romantiker wie Novalis und Lord Byron. Womöglich wandelt Rachel Harnisch schlicht einige Epochen zu spät auf diesem Planeten.

Seit 30 Jahren in Ernen auf der Bühne

Der blaue Himmel über uns mag einstürzen und die Erde mag zerfallen. Es ist mir egal, ob du mich liebst. Die ganze Welt ist mir egal. Solange die Liebe meinen Morgen durchflutet.

Diese Zeilen singt Édith Piaf in französischer Sprache in ihrem Chanson «Hymne d’Amour». Dieses Lied fügte Rachel Harnisch in ihrem Konzert in Ernen spontan noch ein. Mit Édith Piaf, dieser durch Tragödien gezeichneten Sängerin, spürt Rachel Harnisch eine enge Verbundenheit.

Bereits als 20-Jährige trat Rachel Harnisch 1994 im Musikdorf Ernen auf. Damals als Solistin in einer Vorabendmesse, die der Oberwalliser Lehrerchor gestaltete. Mit dem Wallis ringt die Sängerin bis heute in einer Art Hassliebe. Auf Ernen stimmt sie jedoch versöhnliche Töne an. «Kein anderer Ort auf der Welt verströmt eine solche Ruhe wie Ernen», so Harnisch.

Die Vorfreude auf das Konzert mit Rachel Harnisch am Festival Musikdorf Ernen 2025 ist gross. Vom Singen will sie danach endgültig Abschied nehmen: «Es gibt bereits Wetten darauf, dass ich auf die Bühne zurückkehre. Diese Menschen werde ich jedoch eines Besseren belehren», sagt eine sichtlich erlöste Rachel Harnisch.

Ernen, 22. Juli 2024, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)

Back