Ein Hoch auf die Hohepriesterinnen der Musik

Alles Schöne geht einmal zu Ende. So ist es auch mit dem Musikfestival in Ernen, das uns nun schon über anderthalb Monate lang mit überraschenden Aufführungen verwöhnt und im September noch mit dem Programm «Newcomers» aufwartet. Und Ende August, bei «Klavier kompakt», fiebert das Publikum schon jetzt dem Grossmeister Sir András Schiff entgegen.

Sir András Schiff wird uns mit Musik von Mozart, Beethoven, Chopin, Brahms und Bartók verzaubern – jedes Mal begleitet vom alles überragenden Johann Sebastian Bach. Schiff beehrte das Musikdorf schon vor zwei Jahren – und es hat ihm so gut gefallen, dass er für dieses Jahr wieder zugesagt hat. 5 Rezitals, 5 verschiedene Flügel. Ein Spektakel für Ohren und Augen in der hochbarocken Kirche St. Georg. Und wenn man über die ganze Zeit im Walliser Bergdorf bleiben kann, hat man das Privileg, zahlreiche sehr unterschiedliche Programme zu geniessen, alle auf höchstem Niveau von international agierenden Musikerinnen und Musikern vorgetragen.

Und doch erlaube ich mir, meine persönlichen Höhepunkte zu setzen. Es sind Künstlerinnen, die mich besonders in Bann gezogen. Da war die aus Brig stammende Sopranistin Rachel Harnisch, eine aparte Erscheinung, die die Konzert- und Opernbühnen der Welt längst erobert hat und einen unvergesslichen Auftritt in der Kirche Ernen hatte. Es war nicht nur das gelungene Zusammenspiel mit dem südafrikanischen Trio von Charl du Plessis, das einen bunten Strauss verschiedener Musikrichtungen dargeboten hatte, es war schliesslich das «Ave Maria» von Charles Gounod (nach Johann Sebastian Bach), das es nicht nur mir angetan hatte. Diese warmen, vollen und tragenden Klänge ihrer Stimme, die allmählich das Kirchenschiff füllten! Nahrung für die Seele.

Ebenfalls mit Bach beeindruckte uns die polnische Geigerin Maria Włoszczowska. In einer langen, schwarzen Tunika stand sie da, allein, in sich und in die Musik versunken, verschmolzen mit ihrem Instrument. Ihre nackten Füsse gaben ihr maximale Bewegungsfreiheit, wenn es darum ging, die Ciaccona aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Violine solo in ihrer ganzen musikalischen Komplexität zu spielen. Eine Meistergeigerin, die die Grösse dieser Musik und ihren Ausdrucksgehalt faszinierend und kraftvoll interpretierte. Diese Musik von Bach ist für alle Geigerinnen und Geiger eine immense spieltechnische Herausforderung, die immerhin 15 Minuten dauert. Das 4taktige Kadenzmuster wird 64 Mal wiederholt und variiert! Maria Włoszczowska, eine Weltklasse-Performerin, spielte das Publikum ins Staunen. Einen Tag später stellte sie mit ihrem Auftritt in Johannes Brahms’ Trio für Horn, Violine und Klavier ihr Können nochmals eindrücklich unter Beweis – erneut barfuss.

Die 48jährige Schweizer Geigerin und Komponisten Helena Winkelman – keine Unbekannte am Erner Musikfestival – führte mit ihrer Ciaccona für Violine solo (2002) den Reigen der aussergewöhnlichen Musikerinnen fort. Nicht sie selber spielte, sondern ihr Kollege Joseph Puglia, der sich energiegeladen in ihre zeitgenössische, anspruchsvolle Komposition warf. Manchmal hatte man das Gefühl, es sei moderner Bach. Der gebürtige New Yorker, der schon lange in Holland wohnt und international unterwegs ist, meisterte das Stück mit intensiver Leichtigkeit und wurde mit frenetischem Applaus honoriert. Ihre helle Freude hatte auch Helena Winkelmann, die sich vor dem Publikum glücklich verneigte und den Interpreten Joseph Puglia herzlich umarmte. Was für ein Abend!

Buchstäblich ins Auge stach die Schweizer Fagottistin Valeria Curti, die die «Variazioni su un’Arietta di Pergolesi» des Schweizer Komponisten Otmar Nussio (1902–1990) zusammen mit dem Festivalorchester spielte. Nussio ist heute weniger als Komponist in Erinnerung geblieben denn als langjähriger Chefdirigent des Orchestra della RSI in Lugano. Aber seine Komposition hatte es in sich und die überzeugende Valeria Curti im langen, goldverzierten, glitzernden Rock spielte ihr Instrument – das einem ja immer wieder das Rätsel aufgibt, wie man dieses lange, dicke Holz- Blasinstrument überhaupt spielen kann – mit Freude und Überzeugung. Es war ein wahres Vergnügen, ihr dabei zuzusehen, wie sie die dunklen Klangfarben mit spielerischer Sensibilität solistisch in die Musik des Orchesters integrierte. Eine Darbietung, die das Herz erfreute.

Und schliesslich bestätigte sich die finnische Bratschistin Lilli Maijala als Publikumsliebling. Sie ist nun schon seit ein paar Jahren Teil der jeweils im August im Musikdorf gastierenden Kammermusikerinnen und -musiker und hat immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen – nicht nur musikalisch, auch optisch. Diese äusserst sympathische und hochbegabte Musikerin trägt nämlich ihr Haar asymmetrisch – auf der einen Seite kurzes Haar, auf der andern längeres. Doch dieses Jahr hatte sie sich die Haare auf dem Kopf zusammengebunden. Ob sie vielleicht genug hatte von dieser mathematischen Formel? Auch ihre Kleider und die Schuhe (oft rot) waren weniger aussergewöhnlich als in früheren Jahren. Aussergewöhnlich bleibt aber ihr Spiel auf der «grossen» Geige in Lachrymae op. 48a von Benjamin Britten. Die beiden Komponisten Britten und Nussio haben nicht nur gemeinsam, dass sie eine Melodie aus vergangener Zeit als Variationsvorlage genommen haben, sondern auch, dass sie als Soloinstrument die Bratsche oder das Fagott gewählt haben – beide Instrumente haben einen warmen, dunklen Klang.

Man könnte den Reigen fortführen, denn jeder einzelne Musiker, jede einzelne Musikerin hatte grosse Qualitäten. Das Schöne ist, dass sie jedes Jahr immer wieder in – mehr oder weniger – der gleichen Formation spielen. Zu wünschen wäre es, wenn mehr Komponistinnen zum Zuge kämen. Vermerkt sei hier, dass 2022/23 Helena Winkelman als Composer in Residence in Ernen anwesend ist. Und das ist doch schon mal eine gute Nachricht und wird eine Bereicherung und eine Freude für das Festivalpublikum sein.

Ernen, 12. August 2022, Madeleine Hirsiger

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