Finaler Akt

Die gefeierte Sopranistin Rachel Harnisch verzaubert in ihrem allerletzten Konzert die bis auf den letzten Platz ausverkaufte Kirche St. Georg. Eine grosse Karriere geht im Musikdorf Ernen zu Ende.

There′s a place for us,
Somewhere a place for us.
Peace and quiet and open air
Wait for us
Somewhere.

Es gibt einen Ort für uns,
Irgendwo einen Ort für uns.
Frieden und Ruhe und freie Luft
Erwarten uns
Irgendwo.

(Leonard Bernstein, «Somewhere», aus dem Musical West Side Story)

Die Sehnsucht nach einem Ort des Friedens, der Liebe und der Hoffnung, fernab von Zwängen und gesellschaftlichen Normen, die der US-amerikanische Komponist Leonard Bernstein in seinem Song «Somewhere» aus dem Musical West Side Story zum Ausdruck bringt, kennt die in Brig aufgewachsene Sängerin Rachel Harnisch nur zu gut.

In ihrer Karriere sang sie auf allen grossen Bühnen der Welt und arbeitete mit den bedeutendsten Dirigent*innen zusammen. Eine besondere Seelenverwandtschaft verband sie etwa mit dem Jahrhundertdirigenten Claudio Abbado. Doch dieser Ort des Friedens und der Ruhe wollte sich für die «beste Schweizer Sopranistin der letzten 50 Jahre» (Christian Berzins) auf der Opernbühne nie wirklich einstellen.

«Ich hatte immer eine konfliktreiche Beziehung zu dem, was ich mache und was mich ausmacht. Das Singen hat über mein Leben bestimmt, darüber, was ich gegessen habe, darüber, wo ich wann zu sein hatte. Das war viel zu oft in Widerspruch zu dem, was ich eigentlich wollte. Aber ich sah keine Möglichkeit, von diesem Weg abzuweichen», sagte Rachel Harnisch 2024 im Interview mit dem Bund.

Vor zwei Jahren, in ihrem 50. Lebensjahr, auf dem Zenit ihrer Karriere, fasste Rachel Harnisch den Entschluss, die Bühne zu verlassen und nur noch mit ihren Kindern zu singen. Die Sehnsucht nach einem harmonischeren «Somewhere» wurde einfach zu gross.

Einen Ort gab es dennoch, in dem sich Rachel Harnisch stets wohlfühlte und wo sie Harmonie verspürte. «Kein anderer Ort auf der Welt verströmt eine solche Ruhe wie Ernen», verriet sie bei einem Gespräch im letzten Jahr. Kurzerhand war sie damit einverstanden, trotz Karriereende noch zwei Konzerte mit dem Charl du Plessis Trio im Musikdorf zu geben. Das eine war im vergangenen Jahr, ihr allerletztes Konzert ging nun am Samstag, 26. Juli 2025, über die Bühne. Was für ein Vertrauensbeweis und was für eine Ehre für das Musikdorf Ernen!

Irgendwann in der Mitte der 2010er-Jahre hatte Francesco Walter, Intendant des Festivals Musikdorf Ernen, die fabelhafte Idee, die Sängerin Rachel Harnisch mit dem Charl du Plessis Trio zusammenzubringen. In der Folge interpretierte das aus Südafrika angereiste Jazztrio mit der Briger Sängerin in Ernen beinahe jährlich Klassiker aus dem Liedrepertoire in groovigen Versionen und verschmolz zu einem eingespielten Team.

Im Publikum schien es an diesem Samstagabend in jedem Moment spürbar, wie viel Freude der Sängerin das Musizieren mit dem Charl du Plessis Trio bereitete. Obwohl Rachel Harnisch nun ein Jahr nicht mehr auf der Bühne stand, füllte sie mit ihrer Aura und ihrer Stimme vom ersten Ton an die Kirche. Neckisch und spielerisch interagierte sie mit dem Pianisten Charl du Plessis und meisterte bravourös ein wahnsinnig ambitioniertes Programm, das Lieder von Schubert, Schumann und Satie ebenso beinhaltete wie Opern-Evergreens von Bizet und Gershwin.

Wie Rachel Harnisch grosse Phrasen zu singen weiss und etwa im Schubertlied «Du bist die Ruh’» mit ihrer Stimme dem Lied eine spannungsreiche Dramaturgie geben kann: Das ist ganz grosse Gesangskunst.

Somewhere.
We′ll find a new way of living,
We'll find a way of forgiving
Somewhere . . .

Irgendwo.
Wir werden eine neue Art zu leben finden,
Wir werden einen Weg finden, zu vergeben.
Irgendwo . . .

(Leonard Bernstein, «Somewhere», aus dem Musical West Side Story)

«Somewhere», mit diesem Lied voller Hoffnung und Sehnsucht beendete Rachel Harnisch ganz bewusst das Konzertprogramm in der Kirche St. Georg und liess damit das Publikum an ihrem Seelenleben teilhaben.

Danach öffneten die Co-Intendanten Jonathan Inniger und Francesco Walter die mächtigen Flügeltüren der Erner Kirche. Rachel Harnisch konnte die Zugabe und somit das allerletzte Lied ihrer Gesangskarriere, das neapolitanische Canzone «Dicitencello vuje», mit Blick in die Weite und auf ihren Geburts- und Heimatort Brig singen, dort, wo eine grosse Gesangskarriere einst ihren Anfang genommen hat.

Ernen, 27. Juli 2025, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)

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