Hei, die Finnen sind da
Ein Streifzug durch die Eindrücke der vergangenen Tage...
Man ist es sich in Ernen gewöhnt, Musik von höchster Qualität aus verschiedenen Zeitepochen zu hören, vorgetragen von international renommieren Künstlerinnen und Künstlern. Es scheint, als können sich diese ein musikalisches Leben ohne Ernen nicht vorstellen, denn sie treten seit Jahren regelmässig im Walliser Bergdorf auf. Das ist gut so, wir sind dankbar dafür.
Das diesjährige Programm steht unter dem Motto «Feuer und Flamme». Da haben sich unsere Erwartungen mit dem Barockorchester schon einmal mehr als erfüllt. Und das südafrikanische Trio von Charl du Plessis berührte mit der Sopranistin Rachel Harnisch aus Brig freudvoll unsere Herzen. Charl du Plessis, der Pianist, zeigte in einem Soloauftritt sein überragendes Können: Seine Interpretation von George Gershwins anspruchsvollen «Rhapsody in Blue» riss uns von den Kirchenbänken. Ein grosses Werk, eigentlich komponiert für ein stattliches Orchester, aber auch in der Version für Klavier ist es Musik, die an Komplexität, Raffinesse und Schwierigkeitsgrad nichts auslässt.
Ein weiteres Highlight: die Auftritte des britischen Klarinettisten Matthew Hunt. Er spielt sein Instrument, als wäre es ein Teil von ihm: beschwingt, bestimmt und mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es das Leichteste der Welt. Seine warmen und auch kräftigen Töne verzaubern immer wieder die Zuhörenden und die spätbarocke Kirche wird zu einem grossen Klangkörper. (Beispielsweise am 30. Juli mit Louis Spohrs «Fantasie und Variationen» für Klarinette und Streichquintett op. 81).
Mit dem Capriccio für Violoncello und Klavier H. 247, im Jahr 1829 komponiert, zeigte Fanny Hensel-Mendelsohn einmal mehr, was für eine grossartige Komponistin sie war – leider stand sie immer im Schatten ihres Bruders. Sie war 24jährig, als sie dieses Werk komponierte und sich im gleichen Jahr mit Wilhelm Hensel vermählte. Was wäre aus ihr geworden, wäre sie ein Mann gewesen, wie ihr Bruder Felix! Wir sind dankbar für alles, was von dieser bemerkenswerten Frau ans Tageslicht geholt und aufgeführt wird.
Ja, und dann die neuen Gesichter, die das Musikfestival prägen. Auffallend: Die Finnen (und Finninnen!). Die Violinistin Sini Simonen und der Pianist Joonas Ahonen bereicherten das Programm «Lebensstürme» eindrücklich!
10 Violinsonaten schrieb Ludwig van Beethoven insgesamt – es stand die Sonate c-Moll op. 30 Nr. 2 auf dem Programm, die der Komponist in einer schwierigen Zeit seines Lebens schrieb: Die fortschreitende Ertaubung trieb ihn in eine Existenzkriese, denn er verdiente seinen Lebensunterhalt auch als Pianist, und die Angst vor gesellschaftlicher Isolation wuchs beträchtlich. Joonas Ahonen – auf einem Hammerflügel – und Sini Simonen nahmen sich dieser komplexen und anspruchsvollen Komposition mit Leidenschaft und meisterlichem Spiel an. Und wie! Die Zerrissenheit, die Verzweiflung, das Ungewisse im Innern des grossen Komponisten war förmlich spürbar.
Die beiden – um die 40 Jahre alt – sind seit langem erfolgreich unterwegs und nun zum ersten Mal in Ernen aufgetreten. Wir sind dankbar dafür und hoffen, dass uns der schottische Pianist und Programmgestalter von «Kammermusik plus», Alasdair Beatson, weiterhin mit so tollen neuen Persönlichkeiten beschenkt, ohne die schon bekannten zu vergessen. Er verwöhnt uns seit ein paar Jahren regelmässig mit Lilli Maijala, einer finnischen Bratschistin, die nicht nur himmlisch spielt, sondern mit ihrer asymmetrischen Frisur, den farbenfrohen Kleidern und ihren roten Schuhen angenehm ins Auge sticht.
Ernen, 1. August 2024, Madeleine Hirsiger