«Les Adieux» oder «Die Kunst der Zugabe»
Der folgende Text schrieb Engelbert Reul nach den fünf Rezitals von Sir András Schiff im August 2022. Im August 2024 kehrt der Maestro ins Musikdorf zurück und spielt sechs Rezitals in vier Tagen.
Er kam, setzte sich und spielte: «Klavier kompakt». Fünf Konzerte in zweieinhalb Tagen. Oder genauer: Ein Konzert in fünf Konzerten.
Ja, er ist nach Ernen gekommen: Sir András Schiff. Und der Konzertzyklus, den er uns präsentierte, war ein durchkomponiertes Programm. Hier war nichts zufällig, konnte nichts einfach ersetzt werden. Die Überlegungen im Programmheft von «Klavier kompakt» führen das augenfällig aus. Das muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden.
Das Besondere – und dies ist der Grund dieses kleinen Exkurses – das Besondere wurde schon am ersten Abend nach dem eigentlichen Konzert hörbar. Leoš Janáček und die Vier Impromptus D 935 von Franz Schubert waren das Thema. Sir András Schiff machte nacherlebbar, wie sehr diese Vier Impromptus eine Einheit bilden, man könnte hier gerade von einer ganz besonderen Sonate sprechen. Und der volle runde Klang seines Bösendorfer liess das wunderbar hörbar werden. Dass – dies nebenbei – das Eröffnungsstück des Konzertabends von Janáček Im Nebel hiess, war fast eine programmatische Wettervorhersage des diesjährigen «Klavier kompakt».
Aber dann, der Applaus war überwältigend, setzte sich Sir András noch einmal und spielte eine erste Zugabe: die Ungarische Melodie von Franz Schubert, eine musikalische Referenz an die Heimat von Sir András. Und da wir nun schon einmal in Ungarn waren, drängte sich die nächste Zugabe gerade von selber auf: ein Stück aus Für Kinder des grossen ungarischen Komponisten Belá Bartók. Einer weiteren Schubert-Zugabe, ein Moment musical, folgte dann – mit einem leicht ironischen Zwinkern – als Abschluss ein Stück aus den Auf verwachsenem Pfade von Leoš Janáček mit dem Titel Gute Nacht!
Am Samstag dann ein Höhepunkt der Klavierliteratur: der Zweite Teil des Wohltemperierten Klavier aus dem Jahre 1740/42 von Johann Sebastian Bach. Im ersten Konzert waren die Präludien und Fugen Nr. 1 bis 12 BWV 870-881 zu hören und nach einer etwas längeren Pause im zweiten Konzert die Präludien und Fugen Nr. 13 bis 24 BWV 882-893.
András Schiff spielte diesen – nach Hans von Bülow als «Altes Testament» der Klavierliteratur bezeichneten – Zyklus völlig unangestrengt, ja mit einer solchen Leichtigkeit, dass wir Zuhörer seine Interpretation wie selbstverständlich empfanden. Und nein, mit Zugaben haben wir nach diesem grossen Konzerterlebnis in zwei Teilen eher nicht gerechnet.
Doch nach der ersten Hälfte griff Sir András das f-Moll des 12. Präludium & Fuge BWV 881 auf und spielte als Zugabe von J. S. Bach die Dreistimmige Sinfonia in f-Moll BWV 795. Nach dem zweiten Konzert gab das letzte, das 24. Präludium und Fuge in h-Moll BWV 893 die Tonart vor und András Schiff spielte als Zugabe Präludium und Fuge in h-Moll, das letzte Stück aus dem Ersten Teil des Wohltemperierten Klavier.
Dass das Publikum dann am Sonntagmorgen den Zugaben regelrecht entgegenfieberte, versteht sich fast von selbst. Und es wurde nicht enttäuscht. Nach der ersten Klaviersonate von Leoš Janáček und der C-Dur Sonate, der sogenannten Reliquie von Franz Schubert folgten gerade drei Zugaben. Nach einem Impromptu von Schubert folgte ein ungemein packendes Stück aus den Auf verwachsenem Pfade von Leoš Janáček mit dem Titel Die Friedeker Mutter Gottes und als Schlusspunkt noch einmal ein Stück aus dem Klavierzyklus Für Kinder von Belá Bartók. Spielerisch leicht endete so das vierte Konzert von «Klavier kompakt».
Zugaben sind für András Schiff eben nicht jene effektvollen, oft gar reisserischen Virtuosenstücke, die das eigentliche Konzertprogramm manchmal fast in den Hintergrund rücken. Zugaben sind für András Schiff vielmehr Ergänzungen, geradezu ein «Weiterspielen» des Hauptprogramms. Tonarten werden aufgegriffen und die Komponisten des Hauptprogramms sind auch die Komponisten der Zugaben. Und die beiden kleinen Stücke von Belá Bartók dürfen als Referenz an einen der wichtigsten – nicht nur ungarischen – Komponisten des 20. Jahrhunderts gelten.
Und dann war da noch das fünfte, das letzte Konzert von «Klavier kompakt». Zuerst die Klaviersonate in G-Dur D 894 von Franz Schubert und als letztes Werk die Fantasie C-Dur op. 17 von Robert Schumann, ein Werk, das auf mehrfache Weise auf jenen grossen Komponisten aus Bonn hinweist.
Ja, und dann war er doch noch anwesend: der grosse Abwesende.
«Wo ist Ludwig?» hatte der Intendant von Musikdorf Ernen, Francesco Walter, im Vorwort des diesjährigen Programmheftes gefragt. Das Interview mit Sir András Schiff war betitelt mit «Beethoven braucht dieses Jubiläum nicht». Doch kommt man – ob als Pianist oder als ganz gewöhnlicher Musikliebhaber – nicht um ihn herum: Ludwig van.
Und so war die zehnte und letzte Zugabe dann eben doch ein Beethoven. András Schiff spielte die Klaviersonate in Es-Dur op. 81a von Ludwig van Beethoven. Nach dem Wohltemperierten Klavier, dem «Alten Testament» waren wir mit einer Beethoven Sonate nun im «Neuen Testament» der Klavierliteratur angekommen.
Les Adieux, was für ein schöner Abschied nach diesen fünf intensiven Konzerten. Beethoven aber hat den drei Sätzen der Sonate zweisprachige Satzbezeichnungen gegeben. Der dritte Satz ist überschrieben mit: Le Retour, auf Deutsch: Wiedersehen.
Was für ein Versprechen!
Brig, 3. September 2020, Engelbert Reul