Mit Groove bis zur letzten Note

Musikalische Entdeckungen, Gesangseinlagen beim Verspeisen einer Gommer «Cholera» und die Abkehr der Fortuna. Mit dem «Newcomers»-Wochenende ging das 48. Festival Musikdorf Ernen mit vier jungen Ensembles wuchtig und voller Überraschungen zu Ende.

Dieser unförmige Gesteinsklumpen, der seit Jahrmillionen durchs Universum saust mit Namen Erde wäre eindeutig ein besserer Ort würde darauf mehr Musik von Hans Huber erklingen. Diese Erkenntnis erlangte man am sonntäglichen Matinéekonzert des «Newcomers»-Wochenendes schon nach wenigen Minuten. Hans Huber, dieses Schweizer Komponistenurgestein, dessen Musik dennoch beinahe nie im Konzert erklingt, leidet ohrenfällig unter einem Aufmerksamkeitsdefizit.

Da tat es gut, nahm sich das aus Italien angereiste Quartetto Werther diesem Komponisten mit Verspieltheit und klanglicher Wucht an. Schon am Vorabend schwärmte mir bei der traditionellen Gommer Speise «Cholera» im Restaurant Alpenblick die Bratschistin Martina Santarone von seinem Klavierquartett Nr. 2 «Waldlieder» und sang mir zugleich Passagen daraus vor, die von anderen Komponisten beeinflusst seien.

Hans Huber ist ein Eklektiker im besten Sinn und nicht wenige musikalische Ideen hat er von anderen Komponisten abgekupfert – beim Zweiten Klavierquartett etwa Rhythmen aus der 9. Symphonie Antonín Dvořáks. Ganz freiwillig spielte das Quartetto Werther – das sich nach der tragischen Figur aus Goethes berühmtem Briefroman benannte – die Musik Hans Hubers nicht. Als Teilnehmer der «Orpheus Chamber Music Competition» waren sie verpflichtet, ein Werk eines Schweizer Komponisten zu interpretieren. Aber sie spielten das Werk in Ernen mit so viel Lust und Spielfreude und brachten dabei diese Musik so beschwingt zum Leben, dass man ungläubig zurückblieb, weshalb dieser Komponist nicht öfter auf den Konzertprogrammen steht.

Am «Newcomers»-Wochenende im Musikdorf Ernen traten gleich vier Preisträger-Ensembles des letztjährigen «Orpheus Wettbewerbs» auf – neben drei von Streichern geprägten Ensembles auch ein Bläserquintett, das einen ganz anderen Wind ins Musikdorf brachte. Wenn ein Streichquartett – Goethe zufolge – eine geistvolle Unterhaltung unter vier Personen darstellt, dann wirkt ein Bläserquintett wie eine neckisch lustvolle Plauderei unter guten Freunden.

Das spanische KamBrass Quintet wusste die Mehrzweckhalle mit einem abwechslungsreichen Programm zu rocken, führte eine amüsante musikalische Konversation und war auch dem einen oder anderen Spässchen nicht abgeneigt.

Ernster ging es da schon beim Nanos Trio zu. Das Streichtrio um den Violinisten Eoin Ducrot hatte ebenfalls ein wenig gespieltes Werk im Gepäck, das durch seine Schlichtheit verzauberte: das Streichtrio op. 48 von Mieczysław Weinberg. Mozarts «Divertimento», sein längstes Kammermusikwerk, wies wiederum viele kontemplative Stellen auf und zeigte sich in der Interpretation des Nanos Trios als weit tiefschürfenderes Ereignis als lediglich gefällige Unterhaltung für gelangweilte Fürsten. 

War das Quartetto Eos beim «Orpheus Wettbewerbs» von der Glücksgöttin Fortuna noch äusserst begünstigt – sie gingen als Siegerensemble aus dem Wettbewerb hervor – drehte sich das Rad der Fortuna zu ihren Ungunsten weiter.

Aus Palermo nach Ernen anreisend, gingen die Koffer mit der Konzertkleidung auf dem Flug verloren. Auf der Reise von Milano Malpensa ins Musikdorf organisierten sie behelfsmässig einige Kleider, mussten das Konzert jedoch in Socken spielen, da sie keine Lackschuhe mehr auftreiben konnten.

Nur wenige Takte waren vom fulminanten Streichquartett Nr. 6 von Béla Bartók gespielt, da schlug einmal mehr eine rachesüchtige Unglücksgöttin zu und liess die eine Violinsaite des Geigers Giacomo Del Papa reissen.

Diese Hürde durch das Aufziehen einer neuen Saite überwindend, gab es danach für das italienische Eos Streichquartett keine Rückschläge mehr. Es spielte sich in Höchstform und legte nach den impulsiven Bartók'schen Klängen eine wunderbare Interpretation des Werkes «Cold Farmer» des diesjährigen «composer in residence» Thomas Larcher vor. «Mit Groove» ist der erste, von traumwandlerischen Akkordwechseln geprägte Satz des Werkes betitelt, mit Groove spielten die vier jungen Musiker bis zur letzten Note des Konzerts und liessen dabei das Festival berauschend ausklingen.

Brig, 13. September 2021, Andreas Zurbriggen, Musikpublizist und Komponist

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