Musikdorf in pandemischen Zeiten

Was haben traditionell hergestellte Brote, Werke von Photographinnen und Photographen aus aller Welt und Musik von Mozart, Schubert oder George Gershwin gemeinsam? Und was passiert damit in Zeiten von Corona?

Eine Antwort auf die erste Frage ist schnell gefunden: Alles kann man wenige Schritte voneinander entfernt im Musikdorf Ernen erleben. Um die zweite zu beantworten, muss etwas weiter ausgeholt werden. Nach ungewissem Lockdown-Frühling ist wieder – oder umso mehr – Leben eingekehrt im Gommer Bergdorf. Es lebt. Kurz nach den weitreichenden Lockerungen wurde das alte St. Georg auf dem Dorfplatz seine wiedereröffnet. In dem 1535 erbauten Haus wird nun wieder urchiges Brot gebacken. Dazu gibt es regionale Gaumenfreuden, flüssige wie auch feste. Doch nicht nur kulinarische Kunst gibt es zu entdecken: Neben den dauerhaft ausgestellten Werken, die über die Jahre gesammelt wurden, können die Gäste des Landschaftsparks Binntal in diesem Sommer vier Kunstinstallationen oder -ausstellungen besuchen. Zwei davon in Ernen, eine in Binn und die alljährliche TWINGI LAND ART auf dem Weg von Binn nach Ernen. Fast scheint es, als hätte es die Pandemie nicht bis ins Bergdorf geschafft. Alles wie gehabt. Oder doch nicht? Den Kern des Musikdorfs bilden natürlich die fast 40 Konzerte. Hier sieht es etwas anders aus.

Eintauchen

Was bedeuten die Einschränkungen für das Festival? Das Publikum hält Abstand und vermisst die Pausengespräche und -getränke vor spektakulärer Aussicht. Andererseits haben so kompakte 80-Minuten-Konzerte auch etwas für sich. Man kann ganz tief ins Zuhören eintauchen. Die Konzerteinführung wird in diesem Jahr auf YouTube, während der Mittagspause der Wanderung angeschaut, dafür fällt das Abendessen vor dem Konzert etwas ausführlicher aus. Oder sie läuft in gemütlicher Runde auf der Terrasse bei einem Glas Weisswein. Geordnet und mit desinfizierten Händen geht das mit Namen und Telefonnummern registrierte Publikum auf ihre abstandskonformen Plätze. Der totale Maskenball wird nicht inszeniert. Während dies bei einigen die Sorgenfalten tiefer werden lässt, sind die meisten froh darüber. So können sie sich von der Musik in eine Corona-freie Welt tragen lassen und die Realität kurz in den Standby-Modus schalten.

Auch stossen die zahlreichen Alternativprogramme, die aufgrund von Reisebeschränkungen, Quarantäne und Distanzgebot aus dem Hut gezaubert wurden, auf grosse Akzeptanz. Höhere Gewalt hat gelegentlich auch kreative Kraft – wer’s nicht glaubt, lese den Blog von Madeleine Hirsiger (6. Juli 2020). Nicht nur viele im Publikum, auch die meisten Musikerinnen und Musiker erleben nach langem Warten ihre ersten Konzerte in Ernen. Spürbar ist das Bedürfnis auf beiden Seiten. Und auch eine gewachsene Wertschätzung.

Ernen, 22. Juli 2020 von Jonathan Inniger (Bilder: Valérie Giger, Leuk)

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