Mythos orchestra giovane
Nach zwei intensiven Probewochen in Fieschertal gastiert das legendenumwobene orchestra giovane am 1. August im Musikdorf Ernen. Mit im Gepäck: Eruptive Klangballungen. Bericht eines Besuchs bei Musikenthusiasten.
Aus der Küche klingt der Discosong «Yes Sir, I Can Boogie» als Abwasch-Motivationsspritze, an der Wand hängt eine Liste, in der man sich zum Musizieren des «Devil’s Waltz» einschreiben kann und inmitten eines wilden Schuh-Tohuwabohus liegt einsam und verlassen auf einer Ankleidebank ein Exemplar von Yehudi Menuhins Lebenserinnerungen «Unvollendete Reise». Die Indizien sind eindeutig: Das Döttinger Ferienhaus in Fieschertal vibriert in Musiklager-Stimmung.
Im Erner Nachbarort haben sich vor zehn Tagen 55 junge Musiker*innen eingenistet, um fokussiert ein ambitioniertes Orchesterprogramm einzustudieren. Langsam steigt der Adrenalinspiegel. Schon bald können sie nämlich ihr Können unter Beweis stellen: Am 1. August spielt das orchestra giovane um 14.30 Uhr in der Mehrzweckhalle des Musikdorfs Ernen ein Extra-Konzert. Auf dem Programm stehen Werke von Elizabeth Maconchy, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch sowie eine Uraufführung der jungen Schweizer Komponistin Aline Sarah Müller (*2001).
Einen doppelten Espresso bestellt Christian Spitzenstätter bei unserem Treffen im Fieschertaler Restaurant Alpenblick. Er dirigiert in diesem Jahr das Orchester. «Ich habe nach wie vor sehr viel Spass bei den Proben, aber die intensive Probearbeit zehrt an meiner Energie», kommentiert er schmunzelnd seine Bestellung.
Am selben Tisch sitzen auch die Komponistin Aline Sarah Müller, die Violinistin Sophie Knöchelmann, welche als Solistin Schostakowitschs Erstes Violinkonzert interpretieren wird und der orchestra giovane-Präsident Joel Mähne. Sie alle sind sich einig: Ein solches Orchester wie das orchestra giovane gibt es weit und breit kein zweites.
«Es fühlt sich wie eine Familie an, ja sogar wie eine Kommune, da das meiste im Lagerleben von den Musiker*innen selbst aktiv gestaltet wird», sagt Joel Mähne. Und Sophie Knöchelmann, die in den letzten vier Jahren die Position der Konzertmeisterin innehatte, schwärmt von der grossen Spiellust, die in den zwei gemeinsamen Probewochen zum Tragen kommt und ergänzt: «Es ist eine grosse Qualität, dass das Musiklager so lange dauert, weil erst in der zweiten Woche wachsen die Leute emotional so richtig zusammen.»
Starkes Gemeinschaftsgefühl
Dem orchestra giovane – bestehend aus jungen passionierten Amateur-Musiker*innen und aufstrebenden Musikstudierenden – eilt ein legendenumwobener Ruf voraus. Wer einmal in diesem Orchester mitgespielt hat, scheint von einer magischen Kraft immer wieder angezogen zu werden und findet sich ein Jahr später erneut im zweiwöchigen Musiklager.
Was verbirgt sich hinter dem Mythos orchestra giovane, das von den Eingeweihten schlicht OG genannt wird? Sophie Knöchelmann, die nun zum fünften Mal ein Musiklager vom OG besucht, versucht darauf eine Antwort zu geben: «Ich habe bisher nicht viele Orte erlebt, an denen sich jede und jeder so wohl fühlt, niemand ausgeschlossen und alle integriert werden, wie es im OG der Fall ist.» Eine nicht zu unterschätzende Wirkung habe dabei die Musik: «Diese verbindet und kreiert ein starkes Gemeinschaftsgefühl», so die Violinistin.
Licht und Schatten
Eine halbe Stunde nach der Koffein-Kur hebt Christian Spitzenstätter seinen Taktstock im Fiescher Saal Rondo in die Luft, dem OG-Probelokal auf Zeit. Die Disziplin der jungen Musiker*innen ist erstaunlich hoch. «Viele haben nun die Stuhlkante entdeckt», sagte mir Spitzenstätter zuvor lakonisch auf der Terrasse des Restaurants Alpenblicks.
Was nun folgt sind eruptive Klänge von sinnlicher Schönheit, Klangwolken, Klangballungen, die durch subtile Klanginseln durchbrochen werden. Es ist das Werk A Soul’s Noise der Komponistin Aline Sarah Müller. Das 1997 gegründete orchestra giovane vergibt jedes Jahr einen Kompositionsauftrag. In diesem Jahr ging dieser an die 23-jährige Bernerin, die auch als Violinistin von sich Reden macht.
Es ist das erste Orchesterwerk, das Aline Sarah Müller komponiert hat. Und es ist bereits eine Wucht! «In diesem Stück will ich die westlichen Instrumente von einer anderen Perspektive beleuchten, ihre Klangmöglichkeiten erweitern und im Klangkörper Licht und Schatten erzeugen», so die talentierte Komponistin, die das Werk zu einem grossen Teil im Lesesaal der Berner Universitätsbibliothek Münstergasse zu Papier brachte, da die umfangreiche Partitur einen grossen Tisch erforderte.
Es ist ein radikales Stück, der Klangästhetik eines jungen Krzysztof Penderecki oder frühen Helmut Lachenmann verpflichtet, jedoch mit der zukunftsgerichteten Klangsensibilität à la Aline Sarah Müller bereichert. Dazu kommen bei den Streichern Haarnadeln zur Verfremdung des Klangs zum Einsatz sowie Smartphones, auf denen zuvor oder direkt im Konzert eingespielte Instrumentalgeräusche abgespielt werden.
Für viele der jungen Musiker*innen des orchestra giovane ist das Einstudieren eines zeitgenössisch avantgardistischen Stücks ein Novum. Das Erstaunliche: Mit andächtigem Ernst gelingt ihnen scheinbar mühelos das Kreieren eines eindrücklichen Klangkörpers. Diese Uraufführung sollte man sich definitiv nicht entgehen lassen.
Posaunen und Trompeten? Tacet!
Zarte vier Jahre alt war Sophie Knöchelmann, als sie zum ersten Mal das Violinkonzert op. 77 von Dmitri Schostakowitsch hörte. «Mein Vater hatte eine Einspielung des Konzerts mit Hillary Hahn in seiner CD-Sammlung, die ich mir als Kind oft anhörte. Die Musik von Schostakowitsch fühlte sich für mich immer so unglaublich logisch an», sagt die Violinistin, die kürzlich an der Musikhochschule Luzern ihr Studium mit einem Master in Performance abgeschlossen hat.
Schostakowitschs Erstes Violinkonzert erfordert eine eindrückliche Orchesterbesetzung – inklusive grossem Perkussionsapparat und Celesta. Posaunen und Trompeten hingegen müssen in diesem Werk schweigen. Als Kompensation und als Kommentar zu Schostakowitschs Werk ertönt daher als Ouvertüre das Werk Russian Funeral von Benjamin Britten, das rein für Bläser und Perkussion komponiert wurde und in dem ein russischer Trauermarsch verarbeitet wird, den Schostakowitsch ebenfalls für eine seiner Kompositionen verwendet hat: für die 11. Symphonie.
Als Trouvaille spielt das orchestra giovane ein Werk einer viel zu wenig beachteten Komponistin: das Nocturne für Orchester der Britin Elizabeth Maconchy. Ausgetretene Pfade scheinen nichts für das dynamische OG zu sein, das im nächsten Jahr sein zweiwöchiges Musiklager wieder an einem anderen Ort durchführen wird. Daher wird es auf lange Sicht wohl die einzige Chance sein, diesen einzigartigen Klangkörper im Musikdorf zu erleben.
Das Extra-Konzert mit dem orchestra giovane findet am 1. August, um 14.30 Uhr, in der Mehrzweckhalle von Ernen statt. Davor, um 11 Uhr, spielen die Musiker*innen des Festivals ein Kammermusikkonzert in der Kirche mit Musik von Schweizer Komponisten (Honegger, Juon, Veress, Furrer, Martin).
Ernen, 31. Juli 2024, Andreas Zurbriggen (Komponist und Musikpublizist)
Foto oben: Mitglieder des OG beim Konzertbesuch in Ernen
Fotos unten: Sophie Knöchelmann, Aline Sarah Müller, Christian Spitzenstätter