«There is no RIGHT in reading a book!»

Eine Woche mit Donna Leon und Judith Flanders – Literaturseminar im Festival Musikdorf Ernen

«There is no RIGHT in reading a book!» (Donna Leon)

Im Literaturseminar in Ernen gab es in diesem Jahr tiefe Einblicke in die US-amerikanische Seele und Literatur zu gewinnen. Die Krimi-Autorinnen Donna Leon und Judith Flanders hatten für das einwöchige Leseseminar Mark Twains «Die Abenteuer des Huckleberry Finn» und Raymond Chandlers «The Big Sleep» auf die Leseliste gesetzt. Sensible Themen, die nach einer ausgewogenen Behandlung verlangen. Ernen ist dafür genau der richtige Ort.

Die enthusiastische Atmosphäre im Tellensaal ist jeden Morgen zu 9:30 Uhr die gleiche. Recht pünktlich und fröhlich strömen die TeilnehmerInnen in das Gemeindehaus um sich einen Platz zu sichern oder vor Seminarbeginn noch ein paar Worte mit den SchriftstellerInnen auszutauschen. Man plaudert also locker mit Donna Leon und Judith Flanders. Wem nicht nach plaudern ist, der reaktiviert erst noch seine Synapsen mit etwas Kaffee vom heimischen Bäcker. Hat das Seminar einmal angefangen, so sind auch die Anti-Koffeiniker unter den TeilnehmerInnen bei so viel Elan und Charme der beiden Moderatorinnen wach gerüttelt.

Literaturseminare unter der Leitung von Donna Leon gibt es in Ernen schon seit einiger Zeit. Die Teilnahme von Judith Flanders hat erst jüngeren Datums eingesetzt, doch hat man die beiden grande dames mal zusammen erlebt, dann erinnert ihr Zusammenspiel an Schweizer Massarbeit. Fair und kollegial ist in Ernen gleichermassen auch die Einbindung der Seminarteilnehmer. Hier wird kein Vortrag von distanzierten Elfenbeinturm-Bewohnern gehalten, es wird auf Augenhöhe miteinander diskutiert und Wissen ausgetauscht. Es geht um das Teilen und Sozialisieren von Leseerfahrungen. Von dem, was einen fasziniert, von dem was einen schockiert und, insbesondere, von dem, was man auch nicht versteht. Völlig ungezwungen kann man nachfragen, Gedanken einwerfen und dabei ist es auch nicht ungewöhnlich, wenn die Autorinnen zugeben, Anregung und Inspiration aus dem Publikum zu erfahren. Kurzum, es geht um «Magic with Words» (Judith Flanders).

Wie Donna Leon sind auch einige Teilnehmer des Seminars bereits «alte Hasen». Für sie bedeutet diese Woche hier zugleich das Wiedertreffen alter Freunde und das Auffrischen von Kontakten. Man geht an den freien Nachmittagen zusammen wandern und geniesst die Walliser Küche. Nach Ernen bringt jeder etwas mit und jeder nimmt auch etwas mit. Ob es ein signiertes Buch ist, eine Erinnerung an ein tolles Barockkonzert (das Abo für die jeweilige Woche ist immer inkludiert), eine (von vielen) Leseempfehlung, die Ermutigung zum Schreiben (O-Ton: «Its alway about the 'ands', not the 'ors'. A really good book is … and … and...») oder eine Freundschaft. Wie sehr das Lesen und Schreiben mit dem Leben hier verbunden sind, das lässt einen Neuling schon staunen.

Es ist eben auch die Breite der behandelten Literatur und die facettenreiche Herangehensweise, welche den Unterricht auszeichnen. Im abwechselnden Tagesmodus moderieren mal Donna Leon und mal Judith Flanders das Gelesene. Der jeweils Andere hört, bisweilen nicht mehr oder minder erstaunt als die SeminarteilnehmerInnen, gespannt zu. Kommentare sind natürlich nicht auszuschliessen – Scherze auch nicht. Ja, es wird auch mal gelacht im Tellenhaus; nicht allzu laut oder zu ereifernd, eher vorsichtig, zurückhaltend und ein wenig verschmitzt. Thematik und Seriosität werden dafür aber nicht verdrängt. Selbst Judith Flanders wird eingestehen, dass die Lektüre von Twain aufgrund seiner hochprozentig-rassistischen Verwendung des N-Wortes (Originalausgabe), wieder den Intentionen des Buches, nicht einfach fällt. Und Donna Leon wird zugeben, dass ein wirklich gut geschriebener Nachruf zu Tränen rühren kann, wenn der Betroffene auch nur ein Papagei war. So divers und so konträr kann es eben auch zugehen. Wenn am Ende des Seminars dann die Leseempfehlungen, von allen Beteiligten mitgestaltet, festgehalten werden, ist das eine ziemlich stattliche Liste.

Im Unterricht selbst sind die Strukturen recht klar verteilt. Man merkt Judith Flanders an, wie sehr in ihr auch noch die Historikerin steckt. Sie hat immer das «great picture» im Blick, bezieht gesellschaftliche Entwicklungen und Dynamiken sowie die Biographien der Schriftsteller und die Etymologie entscheidender Begriffe mit ein. Es ist daher überhaupt nicht negativ gemeint, wenn man sagen würde, dass Judith Flanders einem die Welt der Literatur erklärt und Donna Leon sich um die Literatur selbst kümmert. Die geistige Schöpferin von Herrn Brunetti geht im Seminar überaus grosszügig vor, Ratschläge zum Schreiben gibt es reichlich. Anhand von Wörtern, Sätzen und Absätzen – ganz klassische Textarbeit - verdeutlicht sie en detail, warum wir mit Marlowe bangen oder was zur unruhigen Stimmung und den gefühlten menschlichen Schauern auf Hucks Reise beiträgt.

Am letzten Tag des Seminars wird den mutigen Teilnehmern die Chance geboten, ihre Arbeit aus der Woche, eine Kurzgeschichte vorzutragen. Donna Leon und Judith Flanders verteilen Tipps, aber auch viel Lob. Geheimnisse des Schreibens werden somit gelüftet und gleichermassen kommen neue hinzu. Und ein paar alte Weisheiten gibt es auch, bei denen niemand helfen kann. Auch so ist Literatur: «Titles come from heaven!» (Donna Leon)

Ernen/Berlin, im August 2016, von Stefan Babuliack

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