...und immer wieder Bach.

Die Klangwelten des Sir András Schiff

Der folgende Text schrieb Engelbert Reul nach den sechs Rezitals von Sir András Schiff im August 2024. Vom 13.–17. Juli 2025 gibt der Maestro einen Meisterkurs und am 18. Juli 2025 ein Rezital in Ernen, und vom 28.–30. August 2026 kehrt Herr Schiff für «Klavier kompakt» ins Musikdorf zurück und spielt fünf Rezitals in drei Tagen.

Zum dritten Mal ist Sir András Schiff zu einem «Klavier-kompakt»-Wochenende nach Ernen gekommen. «Klavier kompakt», das ist, das sind fünf Konzerte für Klavier in zweieinhalb Tagen.

Dieses Jahr erweiterte Sir András «Klavier kompakt» um ein sechstes Konzert. Den Auftakt bildete ein Präludium – ein Vorspiel im Tellenhaus schon am Donnerstagabend. Im eher intimen Rahmen des Tellensaals gab Sir András erstmals ein Konzert auf einem Clavichord, eine regelrechte Premiere auch für den 70-Jährigen Pianisten. Das Clavichord ist beschränkt im Tonumfang und in der Dynamik, ein Instrument, das den Interpreten zwingt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und wenn Sir András uns die zwei- (BWV 772–786) und dreistimmigen Inventionen (BWV 787–801) jeweils mit Kommentaren, Hinweisen, Hörhilfen präsentierte, machte er Entwicklungslinien hör- und nachvollziehbar, gab er einem neugierigen und gespannten Publikum einen Einblick in die Bachsche Werkstatt. Diese Inventionen sind gleichsam ein Skizzenbuch des grossen Johann Sebastian Bach.

Und dass dieses «Klavier kompakt» am Sonntag mit Bachs letztem – unvollendeten Werk – der Kunst der Fuge (BWV 1080) ihren Abschluss fand, dies war nur folgerichtig. Johann Sebastian Bach, das A und O von Sir András Schiffs Klavierkosmos.

Und nebenbei, auch in den übrigen Konzerten war J. S. Bach der Rahmen, der Ausgangspunkt, von dem aus Sir András nachfolgenden Komponisten präsentierte.

Im Mittelpunkt des symmetrisch angeordneten Programms präsentierte Sir András Schiff am Samstagnachmittag ein Hauptwerk von Franz Schubert. Die Klaviersonate in G-Dur, D 894, ist Schuberts längste Klaviersonate, entstanden im Oktober 1826 in Nachbarschaft zur «Grossen» C-Dur Symphonie und seinem letzten Streichquartett. Diese drei Werke sind vielleicht die vollendensten (!) Werke von Franz Schubert. Da nach einem solchen grossen Werk jede Zugabe nur stören würde, wie Sir András anmerkte, gab er die beiden Zugaben gerade als musikalischen Auftakt. Die G-Dur Sonate interpretierte er auf einem Hammerflügel aus dem Jahre 1820 der Wiener Firma von Franz Brodmann. Das von unseren heutigen Flügeln doch sehr abweichende Klangbild vermittelt dem heutigen Hörer, der heutigen Hörerin, ein wenig, wie es bei den Schubertiaden im Freundeskreis von Franz Schubert geklungen haben mag. (Man wünschte sich einen Liederabend mit Schubert-Liedern, begleitet von diesem Hammerflügel!)

Die beiden Abend-Rezitals (Freitag und Samstag) spielte Sir András auf einem Bechstein aus dem Jahre 1921. Ein grossartiges, in allen Lagen ausgewogenes Instrument, ein voller, warmer und gleichwohl brillanter Ton, ideal für das klassische und romantische Klavierrepertoire.

Und wenn er auf diesem Flügel drei Sonaten von Joseph Haydn spielte, darf man sagen, dass dies ein grosses Klavier-Erlebnis war. Besonders seine Interpretation des Andante mit Variationen in f-Moll, Hob. XVII:4, und die der letzten Klaviersonate in Es-Dur, Hob. XVI:52, machte deutlich, dass Joseph Haydn – leider – ein unterschätzter Komponist für Klavier ist, dessen Hauptwerke tatsächlich schon auf den späten Beethoven hinweisen.

Folgerichtig folgten im Konzert des Samstagabends gleich vier Sonaten von Ludwig van Beethoven: die 13. Sonate in Es-Dur, op. 27, Nr. 1, «Sonata quasi una fantasia»; die 15. Sonate in D-Dur, op. 28, «Pastorale»; die 24. Sonate in Fis-Dur, op. 78, und die 30. Sonate in E-Dur, op. 109. Vor allem das Andante, der zweite Satz der D-Dur Sonate und das «Tema: Molto cantabile ed espressivo; Variazioni I – VI» der E-Dur Sonate waren in Sir András Schiffs Interpretation auf diesem Bechstein berührende Höhepunkte. Ein gespanntes Publikum wurde zum aufmerksamsten Auditorium.

Die beiden abschliessenden Rezitale am Sonntag waren dann wieder Johann Sebastian Bach gewidmet. Gespielt auf einem Steinway aus dem Jahre 1915, ein Instrument klanglich eher vergleichbar dem Bechstein von 1921 als heutigen Instrumenten der Firma Steinway.

Womit sich der Kreis der kleinen Exkursion der Klaviermusik auf vier, bzw. drei Instrumenten eindrücklich schloss. Und gleichsam als Hörhilfe, zur Sensibilisierung des Publikums machte Sir András Schiff vor der Interpretation der jeweiligen Werke Hinweise, gab Hörbeispiele und dank einiger Zuspitzungen schuf er jene Voraussetzung, um seine Klangwelten voll zu entfalten.

Das Publikum folgte ihm nur zu gerne und durfte musikalische Sternstunden erleben.

Brig, Ende August 2024, Engelbert Reul

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Anlässlich der Reihe «Klavier kompakt» (22.–25. August 2024) spielte Sir András Schiff sechs Konzerte im Musikdorf Ernen. Die Programme teilte er dem Publikum erst während der Konzerte mit und verband dies jeweils mit kurzen und prägnanten Ausführungen zu den gespielten Werken. Im Folgenden finden Sie die gespielten Programme.

Klavierrezital 1 | Donnerstag, 22. August, um 20 Uhr | Specken-Clavichord, 1743, Nachbau von Joris Potvlieghe

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Aria
aus den Goldberg-Variationen BWV 988
15 zweistimmige Inventionen BWV 772–786
15 dreistimmige Sinfonias BWV 787–801
Aria
aus den Goldberg-Variationen BWV 988

Klavierrezital 2 | Freitag, 23. August, um 20 Uhr | Bechstein-Flügel, 1921 (ex Wilhelm Backhaus)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Sarabande
aus der Partita Nr. 4 D-Dur BWV 828

Joseph Haydn (1732–1809)
Klaviersonate g-Moll Hob. XVI:44
Klaviersonate c-Moll Hob. XVI:20
Fantasie in C-Dur Hob. XVII:4 «Capriccio»
Andante mit Variationen in f-Moll Hob. XVII:6 «Sonata (Un piccolo divertimento)»
Klaviersonate Es-Dur Hob. XVI:52

Klavierrezital 3 | Samstag, 24. August, um 17 Uhr | Brodmann-Hammerflügel, 1828

Franz Schubert (1797–1828)
Allegretto c-Moll D 915
Ungarische Melodie h-Moll D 817
Klaviersonate G-Dur D 894

Klavierrezital 4 | Samstag, 24. August, um 20 Uhr | Bechstein-Flügel, 1921 (ex Wilhelm Backhaus)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Präludium und Fuge in C-Dur BWV 846
aus dem Wohltemperierten Clavier Teil 1

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Klaviersonate Nr. 13 in Es-Dur op. 27 Nr. 1 «Sonata quasi una fantasia»
Klaviersonate Nr. 15 in D-Dur op. 28 «Pastorale»
Klaviersonate Nr. 24 in Fis-Dur op. 78 «À Thérèse»
Klaviersonate Nr. 30 in E-Dur op. 109

Klavierrezital 5 | Sonntag, 25. August, um 11 Uhr | Steinway-Flügel Mod D-274, 1915

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Sinfonia f-Moll BWV 795
Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo BWV 992
Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816
Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903
Italienisches Konzert BWV 971

Klavierrezital 6 | Sonntag, 25. August, um 14.30 Uhr | Steinway-Flügel Mod D-274, 1915

Johann Sebastian Bach
Die Kunst der Fuge BWV 1080

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