Von einem anderen Stern

Man musste genau hinhören, aber man konnte es hören, das leise Säuseln, das sich zwischen 20.00 Uhr und 20.05 Uhr über der Kirche St. Georg im Gommer Bergdorf Ernen bemerkbar machte, als die Glocken im Turm den Leuten die Stunde verkündeten. Es war die Ankunft eines interstellaren Gefährts, das ein zum Menschen gewordenes Genie aus dem Universum entliess – nur für kurze Zeit, aber immerhin. Er wurde geschickt, um uns zu erquicken.

Dieser Mensch stieg dann in den heiligen Hallen der Barock-Kirche langsam die Altartreppe hinunter, hin zum Flügel, in dunkler Hose und einem dazu passenden Sakko, eine schwarze Maske vor Mund und Nase, die er, nachdem er sich kurz verbeugt hatte, behutsam wegnahm, sie genau zusammenlegte, zweimal, die Ohren-Elastik fein säuberlich in die Falten legte, um sie dann in seiner Tasche zu versorgen. Es war ein Ritual, das sich – nach diesem ersten Mal – noch vier weitere Male genau gleich (einmal mit weisser Maske) wiederholen sollte. Er setzte sich auf den Klavierstuhl, ohne noch das Kleinste zu verändern, warf sein Sakko nach hinten, alles mit Gemach, hob die Arme zu einem rechten Winkel an und hielt die Hände über die Tasten, ohne sich noch zu sammeln. Das Spiel konnte sofort beginnen.

Es war der 67jährige ungarische Meisterpianist Sir András Schiff, zum Ritter geschlagen vom britischen Königshaus, der uns mit seinen Darbietungen in eine andere Welt katapultierte. Er, der definitiv von einem andern Stern kommt, zeigte uns, wie gross und grenzenlos Musik ist, mit seinem Können, seiner Musikalität und Interpretationsgabe. Leicht glitten seine zarten Hände über die Tasten, voller Spielfreude, sein Körper bewegte sich kaum und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, wenn die Musik so daherkam, dass man geneigt war, mit dem Fuss dem Takt nachzugeben.
András Schiff ist mit Weltruhm bedacht. Er gehört zu den grössten Interpreten von Bach und Beethoven, aber auch Schubert und andere habe es ihm angetan. Ja, der Beethoven, der jetzt 250 Jahre alt geworden wäre, war mit seiner Klaviermusik leider nicht im Erner-Programm von Andras Schiff vertreten.
Die Konzertreihe begann am Freitagabend mit Im Nebel des Tschechen Leoš Janáček (1854-1928), vier intensive und anspruchsvolle Sätze, die der Komponist in einer schwierigen und düsteren Phase seines Lebens schrieb. Es folgten die Vier Impromptus D 935 von Franz Schubert (1797-1828), der mit dem Komponieren von Klaviersonaten zu einem Zeitpunkt begann, als Beethoven etwa 1815 schon bei seinem Spätwerk angelangt war. Beide lebten in Wien, doch Schubert konnte sich allmählich vom übergrossen Beethoven emanzipieren und ging seinen eigenen Weg. Das, und viel Interessantes mehr, hat der Musikwissenschafter Wolfgang Rathert aus Deutschland mit uns im Programmheft geteilt. Und András Schiff hielt in einem Interview mit dem Zürcher Publizisten Martin Meyer fest: «Die Formen sind bei Schubert lockerer als bei Beethoven. Das ,Problem’ ist, dass viele Werke oft in Einzelteile zerfallen, wenn der Interpret sie nicht zusammenhält. Die einigende Kraft ist der Rhythmus.»
Am Samstag dann der grosse Tag von Johann Sebastian Bach: Die Präludien und Fugen aus dem Band II des Wohltemperierten Claviers waren angesagt, die Bach 1744 fertiggestellt hatte, 22 Jahre nach dem Band I. Schwindelerregend war das alles, Konzentration und Gehör waren gefordert. Und Meister Schiff hält alles zusammen, bringt es in einen rhythmischen Fluss, fordert uns fast masslos heraus. Die Interpretationsmöglichkeiten sind gross, da Bach, der Musik auch als Wissenschaft verstand, in seinen Partituren kaum was vorgibt, auch bei den Tempi. Ja, ,wohltemperiert’ soll es sein. Das heisst in etwa: Die Erfindung eines ausgeklügelten Stimmungssystems ermöglichte die Darstellung aller zwölf Tonarten, in allen Tönen und Halbtönen, man konnte beliebig zwischen ihnen wechseln oder modulieren, ohne dass es zu ,verstimmten’ Intervallen kam. Es war eine Art Befreiung der Tonarten. Die Sache ist natürlich schon noch etwas komplizierter, aber lassen wir das!
Interessant ist, dass diese beiden Bände von je 12 Präludien und 12 Fugen lange Zeit nur als Manuskripte zirkulierten, zu Übungszwecken für Schüler und Bachs Kinder, musikalische, theoretische und didaktische Herausforderungen zugleich. Erst 1801 wurde die Sammlung im Druck veröffentlicht. Sie gehört zu den wichtigsten Werken in der Geschichte der klassischen Musik.
Und das war noch nicht das Ende des Spiels von András Schiff. Am Sonntag dann nochmals Klaviersonaten von Janáček und Schubert und die Fantasie C-Dur von Robert Schumann (1810-1856).
So viel pianistische Virtuosität musste dann mal erst verdaut werden. Wir sassen also auf unseren Kirchenbänken, beglückt und wohl auch etwas erschöpft. Und der Meister? Er war grad so im Fluss, so schien es. Nach seinen üblichen kurzen Verbeugungen – die erste galt immer seinem engen Freund, dem Flügel Bösendorfer – setzte er sich nochmals hin und bot uns – als krönender Abschluss und zu unserer Überraschung, die Klaviersonate Nr. 26 «Les Adieux» von Ludwig van Beethoven. Das war keine Zugabe, das war ein zusätzliches kurzes Konzert. Die Freude beim aufmerksamen Publikum war riesengross. Der letzte Satz der Sonate trägt den Titel «Le Retour». Wir warten gerne auf seine Rückkehr. Auch wenn es dauern sollte.

Wir wissen nicht, ob das interstellare Gefährt den Meister wieder abgeholt hat. Auf jeden Fall hat man ihn im Dorf noch gesehen. Und wie zu vernehmen war, hat es ihm in Ernen sehr gut gefallen. Könnte ja sein, dass er nun auf der Erde bleibt.

Zürich/Ernen, anfangs September 2020, Madeleine Hirsiger

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