Wenn die Musik das Sakrale übersteigt

Das abendliche Licht suchte sich noch den Weg ins Innere der dunklen Kirche St. Georg in Ernen. Nur der hell beleuchtete Tabernakel des Altars im hinteren Teil der Kirche schien golden und das Ewige Licht, das von der Decke an einer Kette hing, stimmte uns auf eine aussergewöhnliche Darbietung des Chiaroscuro Quartets ein – zu Beginn der 52. Ausgabe des Festivals Musikdorf Ernen. Die sieben letzten Worte von Jesus am Kreuz haben rund 1750 Jahre nach der Kreuzigung den Komponisten Joseph Haydn (1732–1809) zu göttlicher Musik in sieben Sonaten inspiriert, heute bekannt als «Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze» Hob. XX/1:B.

Das abendliche Licht suchte sich noch den Weg ins Innere der dunklen Kirche St. Georg in Ernen. Nur der hell beleuchtete Tabernakel des Altars im hinteren Teil der Kirche schien golden und das Ewige Licht, das von der Decke an einer Kette hing, stimmte uns auf eine aussergewöhnliche Darbietung des Chiaroscuro Quartets ein – zu Beginn der 52. Ausgabe des Festivals Musikdorf Ernen. Die sieben letzten Worte von Jesus am Kreuz haben rund 1750 Jahre nach der Kreuzigung den Komponisten Joseph Haydn (1732–1809) zu göttlicher Musik in sieben Sonaten inspiriert, heute bekannt als «Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze» Hob. XX/1:B.

Es waren die vier Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die verschiedene Auffassungen der letzten Worte von Jesus am Kreuze niederschrieben. Die vier Evangelien sind literarische Erzählungen des Lebens von Jesus, die, wie in der antiken Literatur üblich, mit den «ultima verba» ihr jeweils eigenes Narrativ bekräftigen.

In schwarzer Kleidung traten die vier Musikerinnen des Chiaroscuro Quartets (hell-dunkel, wie passend für den Abend) vor ein erwartungsvolles Publikum. In einer weltlichen und lebendigen «Introduzione» (Maestoso ed adagio) wurden wir mal besänftigt – und doch eingestimmt, auf die ergreifenden sieben letzten Worte, die uns erwarteten.

Die erste Sonate (Largo) zum Ausspruch «Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», setzte den Massstab über das 80-minütige Werk. Getragen, langsam, dunkel in der Grundstruktur, setzte sich jede Sonate von der andern ab, mit musikalischer Bezugnahme auf die jeweiligen Jesusworte.

So fühlte ich mich für kurze Zeit in barockähnlichen Tönen wieder und bei einem Schlussakkord bei einer Harmonika, auch, weil die Streichinstrumente ihre intensiven, warmen Klänge von sich gaben. Es war immer wieder die erste Geigerin (Alina Ibragimova), die sich in hellere Sphären begab, als wollte Haydn uns sagen, «so schlimm ist es nicht». Das Spiel, zusammen mit der zweiten Geigerin (Charlotte Saluste-Bridoux), der Bratschistin (Emilie Hörnlund) und der Cellistin (Claire Thirion) war äusserst konzentriert und akkurat auf höchstem Niveau vorgetragen und liess uns in den sakralen, hohen und immer dunkler werdenden Kirchenraum entschweben.

Die fünfte Sonate (Adagio), «Mich dürstet», begann mit dem Zupfen der Saiten, als wären die Töne Wassertropfen, nach denen sich Jesus am Kreuz sehnte, und die erste Geige hörte sich an, als wäre sie als Dach über dem tropfenden Wasser gedacht. Und so endet auch die Sonate. Der Mittelteil wägte uns mal in Hoffnung, mal in Verzweiflung, so mitnehmend war die Musik, dass man sich nahe am Sterbenden fühlte.

Es folgte die sechste Sonate (Lento), «Es ist vollbracht». Der Tod ist nahe, es gibt keine Hoffnung mehr. Zeit, sich hinzugeben, hin, zum Unausweichlichen. Die Musik vermittelt grosse Ruhe, und mit der siebten Sonate (Largo) «Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist», die wie ein langes Amen und nach Vergebung tönt, werden wir entlassen, mitgenommen, irgendwie aufgelöst mit dem Bewusstsein, dass uns die Musik in höhere Sphären geführt hat, wo wohl alle noch ein wenig verweilen wollten, so überwältigend was das Werk.

Aber nein: ein gewaltiges Erbeben erreicht uns «Presto e con tutta la forza», auch eine Art Erlösung für das Chiaroscuro Quartet, diese entfesselte Musik liess keinen Ton auf dem andern, laut, agitato, die vier Musikerinnen gaben alles, rüttelten uns auf und warfen uns auf unsere eigene Existenz zurück, auf unsere Mittelmässigkeit, auf den Zustand der Welt und was wir alles im Hier und Jetzt auszuhalten haben. Und vielleicht war es auch ein Zeichen an uns, leiser zu werden, nachdenklicher, anteilnehmender, ja, demütiger.

Was für ein musikalisches Ereignis. Unvergesslich. Zugetragen in der Kirche St. Georg zu Ernen, am 4. Juli 2025.

Samstag, 5. Juli 2025, von Madeleine Hirsiger

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