„It’s more complicated than that!“

Literaturseminar im Festival Musikdorf Ernen: Viel mehr als die Summe seiner Teile!

Donna Leon und Judith Flanders halten seit mehreren Jahren gemeinsam einen Literaturkurs als Teil des Festivals Musikdorf Ernen ab. Die beiden Autorinnen sind mittlerweile ein bestens eingespieltes Team und bieten mit viel Leidenschaft, Esprit und Neugier erneut eine beeindruckende Woche ganz der Literatur gewidmet. Barockkonzerte, Wanderungen und sommerliche Apéros inbegriffen!

Dieses Jahr standen zwei einander sehr kontrastierende Werke auf der Lese-Agenda in Ernen. Getreu dem Motto des Festivals „Auf Reisen“ war auch das Literaturseminar (zumindest ideell) viel unterwegs – zwischen einem in der Zukunft angesiedelten Kalkutta, Indien und einem Landsitz im viktorianischen England: Henry James „The Turn of the Screw“ und Amitav Ghoshs „The Calcutta Chromosome” galt es für die TeilnehmerInnen für gründlich zu lesen. Und das taten sie auch – mal mit Begeisterung, mal mit Unsicherheit und Irritation, und ab und an auch mit etwas Widerwillen.

Die Diskussionen im historischen Tellensaal leben davon, dass die TeilnehmerInnen und natürlich auch Donna und Judith ehrlich und kritisch auf die Bücher schauen. Gelesen wird, worauf man sich im Vorjahr einigen konnte. Und es sollte auch eine Balance herrschen, zwischen klassischer und moderner Literatur. So kann es in bestimmten Jahren mitunter vorkommen, dass Bücher auf der Liste stehen, von denen man munkelt, sie liessen sich besser besprechen und diskutieren als lesen.

Mit Ghosh und James gab es dieses Jahr auch viel zu Debattieren: gegensätzliche Glaubens- und Wissensansätze zwischen, vereinfacht ausgedrückt, westlichen Wissenschaftsdoktrinen und östlichen Spiritualitätskonzepten, abweichende Vorstellungen von Individualitätsdenken und Kollektivvorstellungen, und natürlich das Erbe und die Konsequenzen einer kolonialen Erfahrung – alles thematisiert im „The Calcutta Chromosome“, auf Ebenen der Sprache, gebrochener Erzählchronologie und -stilistik. Zuerst einmal musste dafür der Plot entwirrt und sortiert werden. Bezüge zu anderen Werken, Ideen und Tropen mussten aufgespürt und auch entziffert werden. Die TeilnehmerInnen bereicherten sich hierbei gegenseitig mit ihren (Lese-)Entdeckungen und Erfahrungen. Historisches Hintergrundwissen, gesellschaftskritische Ansätze, kulturelle Vielfalt und das Ringen um neue Perspektive sind wesentliche Teile der Diskussionen. Als wesentliche Erkenntnis blieb danach zu konstatieren, dass auf die grossen Fragen oftmals nicht einfache Antworten folgen. „It’s more complicated than that!“ fasst Judith die Diskussion mal zusammen, und im Laufe der Woche wird sich diese Feststellung mehrfach bestätigen.

Nach den ersten zwei Tagen stand nun der literarische Wechsel an. Von Kalkutta ging es auf das mysteriöse Anwesen Bly in England, auf welchem die Gouvernante in Henry James Novelle von geisterhaften Erscheinungen heimgesucht wird. Bezüge zu Ghoshs Buch, zu Stokers Dracula wurden hergestellt, Judith erläuterte in ihrer Lesart den parodistischen Charakter des Buchs auf Brontës „Jane Eyre“ und Donna legt die Verbindungen zum britischen Klassensystem, zu Autoritäts- und Machtängsten frei. Grossen Raum nimmt selbstverständlich auch das Thema Geschlechterdarstellung und die von James entworfene, zumindest fragwürdige Weiblichkeit ein. Neben den klassischen Themen um die Geistererscheinungen des Buches findet das Seminar in Ernen weitere Pfade, denen es sich lohnt nachzugehen. Augenöffner werden ganz nonchalant präsentiert. Und “its all there on the page” – die Lesarten sind vielgestaltig und auch nach mehrfachem Lesen für KennerInnen des Buches faszinierend.

Vielgestaltig sind aber auch die einzelnen Elemente des Seminars – nach den 4 Tagen intensiver Buchsprechungen wird am fünften Tag eine freiere Gesprächsrunde gewählt, in welche weitere Spezifika übers Schreiben und Lesen, in Erfahrung gebracht werden. Vermittelt wird hier vor allem die Grundtugenden guter Autorenschaft – genaues konzentriertes Lesen und die Leitfrage: „In whose experience are we interested in?“ Zusammen mit etwas Handwerkszeug und freigesetzter Kreativität findet sich in den meisten ein gutes Mass an schriftstellerischem Talent. Was am letzten Unterrichtstag unter Beweis gestellt werden darf. Von den TeilnehmerInnen verfasste Kurztexte werden vorgetragen und gemeinschaftlich besprochen – die Qualität lässt nicht auf sich warten…

Die Aufgabenteilung zwischen Judith und Donna hat sich über die Jahre nicht sonderlich verändert. Während erstere ihrer Historikerinnen-Natur nach historische und gesellschaftliche Anknüpfungspunkte bietet, damit zu überlegtem Umgang mit Setting, Thema und Herangehensweise mahnt, und den Hintergrund für diverse Interpretationen bereitstellt, ist letztere verstärkt an den literarischen Nuancen, den begrifflichen Feinheiten und den jeweiligen Schreibstilen interessiert; und sie liebt und rät zu Aufzählungen, dies sei als kleiner Schmankerl verraten. Ein simples aber sicheres Stilmittel, um prägnant zu erzählen. Donna und Judith ergänzen und unterstützen einander, hinterfragen die jeweiligen Standpunkte und vermitteln dabei eine Natürlichkeit, als gehörten sie wie der Aletschgletscher ganz selbstverständlich ins Oberwallis.

Treu geblieben sind sie sich auch in ihrem Humor – zwischendurch erlauben sich beide, zahlreiche Klischees amerikanischer und britischer Art bedienend, Scherze über die Literatur und über sich selbst. Und es gibt viel Anlass zum Lachen und Schmunzeln – gerade auch wenn darüber gesprochen wird, mit welchen Schwierigkeiten und persönlichen Widersachern man es beim Schreiben zu tun hat. Völlig unprätentiös und offen berichten Donna und Judith von ihren Erfahrungen. Sie können das auch, weil sie die „Klasse“ hier in Ernen so zu schätzen wissen: „its fun!“ – sie geniessen es gleichermassen. Das liegt daran, dass die TeilnehmerInnen aufgrund ihres Altersdurchschnitt und der Lebenserfahrung viel zum Unterricht beitragen können. Denkanstösse kommen durchweg von beiden Seiten im Seminar. Es liegt eine hohe gegenseitige Wertschätzung im Raum und die Klasse ist auch untereinander sehr herzlich und harmonisch. Das Schreibseminar ist in seinen schönsten Momenten, eingebettet in die Barockkonzerte des Festivals am Abend, über leckere gemeinsam im angenehmsten Bergsommer genossene Apéros, schon fast ein Familienwiedersehen. Neuankömmlinge werden rasch aufgenommen, allen anderen merkt man an, dass man sich schon seit Wochen oder gar Monaten auf die alten vertrauten Gesichter gefreut hat.

Neben den alt-bekannten Gesichtern geht es dieser Tage aber auch um neue Buchentdeckungen – Donna wie Judith teilen ihren Überraschungen und jüngsten Schätze mit den TeilnehmerInnen und vice versa.

Diese Leidenschaft für das Geschriebene beherrscht für eine Woche den Tellensaal und stellt für jede/n eine eigene persönliche Erfahrung dar. Ganz minimalistisch liesse sich behaupten, dass man aus Ernen mitnimmt, was man auch herbringt – den Respekt fürs (genaue) Lesen und Schreiben. Oder anders ausgedrückt, im Tenor der TeilnehmerInnen des Seminars: „Der Kurs ist bedeutend mehr als die Summe seiner Teile.“

Deshalb stürmt niemand nach Unterrichtsende aus dem Tellensaal, vielmehr unterhält man sich gerne noch weiter und auch lebhaft über die Kaffeepausen hinweg. Und wer dann noch nicht genug hat, der trifft sich später zum Wandern in den Bergen oder auf einen Kaffee um den letzten Gedankengang wieder aufzugreifen.

Und worauf man sich nach dem Seminar in Ernen freut, wenn auch sich die Abreise nähert? Auf die kommenden Lese-Tage und Wochen. Denn für viele hier gibt es kaum etwas Schöneres, als jene Momente, mit Büchern in den Händen und in den Gedanken…

Ernen im Juli / August 2017, mit Dank an gesprächsbereite TeilnehmerInnen des Literaturseminars sowie Donna Leon und Judith Flanders, von Stefan Babuliack.

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