Christian Mason

Composer in Residence 2023/24

Translation coming soon...

Ein kalter Morgen im November 2023. Christian Mason ist gerade aus London, wo er mit seiner Familie lebt, angekommen in Ernen. «Nice to meet you», sagt er, und wirkt, als hätte er alle Zeit der Welt. Doch seine Koffer sind noch nicht ausgepackt, eigentlich müsste er mit Arbeiten beginnen; die Zeit läuft.

Der Brite weilt als Composer in Residence im Bergdorf. Hier schreibt er im Auftrag des Festivals Musikdorf Ernen ein neues Werk, das im Rahmen von «Kammermusik plus» uraufgeführt wird. Das Datum steht schon fest: 3. August 2024. Es scheint den Komponisten nicht sonderlich zu beunruhigen. Immerhin die Besetzung sei bereits fix, sagt er. Es werde ein Stück für Quartett, das heisst, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier. Dazu kommen weitere Musikerinnen und Musiker, die im Kirchenraum verteilt sind. Die spezifische «Soundscape» des Musikdorfs werde in seiner Komposition eine zentrale Rolle spielen.

Die Umgebung als Inspiration
Soundscape? Der Begriff mag vielen nicht geläufig sein. Er kommt aus einem noch jungen interdisziplinären Wissenschaftszweig, der sich mit Klangforschung, akustischer Kommunikation und Klanggestaltung befasst. Im weitesten Sinn geht es dabei um Klanglandschaften. Ein Bergdorf tönt anders als eine Grossstadt oder eine Stadt am Meer. Soundscapes sind für den Komponisten Mason eine wiederkehrende Inspiration.

Räume denken wie ein Maler
Seine Sensibilität für Umgebungsklänge leitet ihn beim Komponieren. In Ernen gehören dazu das Wasserplätschern der Brunnen, der Wind, das Vogelgezwitscher und die Glocken von Kühen, Ziegen und Schafen. An einer naturalistischen Übertragung der Klänge sei er aber nicht interessiert, sagt Mason und bringt einen Vergleich.

Er denke wie ein Maler. Er schaffe durch die Musik szenisch-akustische Räume mit einem Vorder- und einem Hintergrund, in die er komponierte und improvisierte Strukturen fülle, die sich ergänzen und überlagern. Wie sich das anhört? Man wird es erleben.   

Pfiffe durchs Treppenhaus
Sein Interesse an differenzierten Klängen sei bereits mit den Hörerfahrungen in seiner Kindheit geweckt worden, sagt der 39-Jährige. Aufgewachsen ist er in einem anglikanischen Gemeindehaus der Church of England mit drei älteren Schwestern in London. Zur Grossfamilie gehörten auch ein Dutzend Studierende im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die für eine gewisse Zeit in einer christlichen Gemeinschaft Lebenserfahrung sammelten.

Geleitet wurde das Haus von Masons Mutter. Der lebhafte Alltag in der «community» mit ihren Regeln und Ritualen habe er als grosse Bereicherung erlebt, sagt Mason. Zur Klangkulisse seiner Kindheit gehörten nicht nur der Trubel in einer Wohngemeinschaft, die sich auf sieben Stockwerke erstreckte, sondern ebenso eine kleine Glocke, die zum Abendgebet läutete und eine Pfeife, die durchs Treppenhaus schrillte, wenn das Essen bereit war.

Lieber Geige statt Klavier
Und die Musik? Es habe im Haus ein Klavier gegeben. Aber: «Das Instrument interessierte mich nicht. Ich wollte Geige spielen.» Der Violinunterricht gefiel ihm. Später kam Gitarre dazu. «Ich lernte Beatles-Songs und begann zu improvisieren.» Mit 16 entdeckte Mason einen neuen Klang, der ihn «elektrisierte». Mason entdeckte ihn in zwei Songs – in «Mysterons» und «Humming» – der britischen Band Portishead, deren Songs er in jener Zeit rauf und runter hörte. Die 1991 in Bristol gegründete Musikgruppe zählte zu den Pionieren des Trip-Hop.

Mason begann zu recherchieren und fand heraus, dass seine Lieblingsband einen Theremin-Sound verwendete, der durch einen Synthesizer gespielt wurde. Theremin! Dieses Instrument wollte er lernen. Und tatsächlich legten seine Eltern ihm ein Theremin unter den Weihnachtsbaum. Das Geschenk öffnete ihm eine neue Welt. Mithilfe von Videos der Theremin-Spielerin Lydia Kavina begann Mason selbständig mit dem Instrument zu experimentieren. Dass er bereits Geige spielte, empfand er als hilfreich. «Für beide Instrumente braucht man ein gutes Gefühl für die Melodie», sagt Mason.

Berühren verboten
Das Theremin wird durch den Abstand beider Hände zu zwei Antennen in der Luft gespielt. Durch Handbewegungen im elektromagnetischen Feld erzeugt man Töne, ohne das Instrument zu berühren. Eine Hand verändert die Tonhöhe, die andere die Lautstärke. Die Näherungssensoren seien sehr empfindlich, sagt Christian Mason. Eine feine Muskelkoordination sei wichtig. «Bei der kleinsten Bewegung des Körpers verändert sich der Ton. Deswegen muss man beim Spielen sogar die Atmung unter Kontrolle haben.»

Spannend wie ein Krimi
Die Geschichte des Theremins hört sich an wie ein Krimi. Erfunden wurde es von einem russischen Physiker in den 1920er-Jahren, der auch Cello spielte. Ein Visionär, ein Genie, sagt Mason. Lew Sergejewitsch Termen, später Leon Theremin, habe mit dem Theremin das erste Instrument geschaffen, das elektronische Töne erzeugt. Das Theremin mit seiner grenzenlosen Singstimme habe sein Komponieren wesentlich beeinflusst. Und dann verrät er noch etwas: Er werde das Instrument im Sommer 2024 nach Ernen mitbringen und am 4. August, um 11 Uhr, eine Kostprobe geben.  

Neues Repertoire schaffen
Doch zurück zu seinem neuen Stück, das den Titel «Figures in a landscape (awaiting eternity)» trägt. Christian Mason möchte mit dessen Besetzung an seinen «Musik-Grossvater» erinnern, den französischen Komponisten und Organisten Olivier Messiaen (1908–1992). Dessen berühmtes «Quatuor pour la fin du temps» (1940) hatte die gleiche Besetzung wie das Quartett, das er in Arbeit hat.

Überrascht habe er festgestellt, dass er auch seine allererste Komposition für die Besetzung Klarinette, Violine, Cello und Klavier geschrieben hatte. Damals war er 17 und liess sich durch das Gedicht «The End is Near the Beginning» des britischen Poeten und Künstlers David Gascoyne (1916–2001) inspirieren, einem Künstler, der der surrealistischen Bewegung nahestand.

Noch mehr Mason
Dass im Rahmen des Erner Musiksommers vier weitere Werke von ihm aufgeführt werden, erfüllt Mason mit Stolz und Freude. So wird der Pianist Andrei Gologan das Klavierstück «...just as the sun is always...» (2006/2009) aufführen, und Sergey Tanin spielt «The Earth: Her Dance» aus den «Inner Landscapes» (2018/2019). Im Orchesterkonzert 1 erklingt im Rahmen von «Kammermusik plus» das «Tuvan Songbook» für singendes Streichquartett (2016) in der Fassung für Streichorchester (2020). Und im Kammerkonzert 5 wird Masons Hommage an Schubert «Shadowy fish» für Violine, Viola, Cello, Kontrabass und Klavier (2020) zu hören sein.

Spirituelle Nahrung
Als zeitgenössischer Komponist sei man Teil einer komplexen Ökologie, sagt Christian Mason. Man sei gleichzeitig frei und abhängig. Zum Beispiel von Dirigentinnen, Interpreten, Agentinnen, Verlegern, aber auch Festivals, Rundfunkanstalten, Plattenfirmen oder Stiftungen. Für einen jungen Komponisten sei es wichtig, starke Beziehungen zu pflegen und aufzubauen. «Ohne Unterstützung kann Kultur nicht florieren.» Zuweilen würden einem aber auch Gelegenheiten aus heiterem Himmel zufallen. Wie jetzt in Ernen. «Das Musikdorf war mir völlig unbekannt. Bis ich eingeladen wurde, hierherzukommen und für drei Monate zu bleiben.»

Mason, der an der University of York eine Dissertation zum italienischen Komponisten Giacinto Scelsi abschloss und danach seine Studien bei George Benjamin am King’s College London fortsetzte, kann heute vom Komponieren leben. Seine Werke werden von den besten Orchestern weltweit aufgeführt. Zudem erhielt er 2015 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung, was einem Ritterschlag gleichkommt. Seine beharrliche Suche nach etwas Eigenem in der Musik hat sich gelohnt. Mason begnüge sich nicht damit, hübsche Klangfarben zu schaffen, schrieb einmal ein Kritiker. Er versuche ständig, unter die Oberfläche der Musik zu blicken und tiefer und noch tiefer zu gehen. «Musik ist Kommunikation und Gemeinschaftserfahrung. Und spirituelle Nahrung», sagt Mason. «Die Welt hat sie nötiger denn je.»

Die Zeit ist vorgerückt. Auf dem Dorfplatz wartet bereits das Postauto. Es nieselt ein wenig. Ernen in Moll: Die sonst leuchtenden, von der Sonne gegerbten Holzhäuser wirken im Nebel, als hätte jemand ihre Konturen mit dem Weichzeichner verwischt. «It is fantastic», sagt Mason und strahlt. Er empfinde es als grosses Glück, hier «vor Ort» zu arbeiten.

Geschrieben im November 2023, von Marianne Mühlemann

Hier können Sie eine Karte für die Uraufführung am 3. August kaufen

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4 Fragen an Christian Mason:

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