Mit dem Zug von Wien ins Musikdorf und zurück

Ende Mai 2020 meldet sich Francesco Walter beim Veranstaltungsmanagement des Zsolnay-Verlags, um die Bedingungen einer Lesung Ende Juli zu besprechen. Wenig später wissen wir, dass die Lesung stattfinden kann und, so sich das Virus nicht erneut wichtig macht, stattfinden wird. Mitten unter die wiederkehrenden Nachrichten von Absagen stellt sich eine Zusage. Abergläubisch verbiete ich mir, die genaue Lage von Ernen in der Schweiz nachzuschlagen.

Mein Lebens- und Arbeitsrhythmus wird seit vielen Jahren von zwei sich ergänzenden Wünschen strukturiert. Einerseits einem Wunsch nach Rückzug, andererseits einem Wunsch nach Geselligkeit. Untertags sitzt man einsam an einem Tisch, um zu lesen oder zu schreiben. Während dieser Zeit braucht es keinerlei Zuspruch. Wird es Abend oder Nacht, muss sich die Einsamkeit allerdings auflösen. Es drängt einen nach draussen, in eine Bar oder ein Wirtshaus und die Sehnsucht nach Unterhaltung, Spässen und Flirtereien wird übergross. David Hume ist jener Philosoph, der diesen produktiven Wechsel von Rückzug und Offenheit am besten verkörpert. Er ist mir unter allen Denkern der teuerste.

Leider macht das Virus diesen Rhythmus zunichte. Abendliche Geselligkeit gibt es nicht mehr. Die Gasthäuser sind verschlossen, meine Freundinnen und Freunde hinter Mauern und Fenstern. Umarmungen, geschweige denn Küsse oder flüchtige Liebschaften, geraten unter den Nimbus des Gefährlichen. Doch so ist auch das Alleinsein kein Segen mehr. Ohne abendliches Bier in ausgelassener Runde bereitet mir das zurückgezogene Lesen am Nachmittag keine Freude. Die Studentinnen und Studenten sehe ich nur noch via Bildschirm. Ich vermisse ihre leibhaftige Anwesenheit, wie ich überhaupt die Körper meiner Mitmenschen plötzlich mehr als alles andere vermisse. Ich bereue, mich nie um eine feste Bindung an jemanden gekümmert zu haben.

Der Zug verlässt Wien pünktlich um 7.00 Uhr morgens, passiert Linz, Salzburg, Innsbruck und Feldkirch. Ohne Aufenthalt in Liechtenstein, fährt er über Buchs nach Zürich. Die Trasse führt am Walen- und am Zürichsee entlang. Am Zürcher Bahnhof organisiert mir eine sympathische Angestellte die Weiterfahrt nach Ernen. Der Anschlusszug führt über Bern und Thun nach Brig. Von Brig schraubt sich eine etwas kleinere Bahn durchs Rhonetal. Unter den Schienen schäumt die junge Rhone. Wir erreichen Fiesch. Ein Bus bringt mich von Fiesch nach Ernen. Es ist am Dunkelwerden. Die Turmuhr in Ernen schlägt Sieben.

Über dem Dorf liegt Rauch oder Dampf. Es ist kühl, ohne wirklich kalt zu sein. Vor den Fenstern prangen Pelagonien. Die Äste der Eschen tragen schwer an ihren Beeren. Malven, Floks und Rosen säumen das Dunkelbraun des Holzes. Alle Häuser sind aus Holz. Mitten im Dorf ist ein grosser Gemüsegarten. Bei genauerem Hinsehen ist überall Wasser. Es fliesst in kleinen Rinnsalen zwischen den Hecken. Am Dorfplatz fasst ein steinernes Becken eiskaltes Wasser. Ich setze mich auf den Balkon meines Hotelzimmers und betrachte das Dorf wie im Rausch. Das Tal versinkt im feuchten Abendlicht. Unter dem Hotel weiden Ziegen. Sie meckern, ihre Glöckchen bimmeln inständig. Das letzte Licht verschwindet. Seit Wochen oder Monaten gelingt es mir, ohne Unterbrechung durchzuschlafen.

Nach dem Frühstück gehe ich sofort hinaus. Ein naheliegender Weg führt, wenn man es ernst meint, bis aufs Eggerhorn. Ich bin in Spazierlaune. Der Weg will von Beginn an hoch hinaus. Hinter den Gipfeln lauert die Sonne. Es wird ein wunderschöner Sommertag. Eine Rinne führt frisches Wasser Hang abwärts. Ich trinke davon und bilde mir allerhand ein. Eine Kapelle lädt dazu ein, betreten zu werden. Warnschilder mahnen allerdings zur Vorsicht. Das Virus regiert bis ins Gebirge hinein, in stumme Wälder, in abgelegene Kapellen. Ein Junge, vielleicht 12 Jahre, kommt mir entgegen. In Händen trägt er eine leere Stofftasche. Er grüsst mich freundlich und ich freue mich, ihn zu sehen. Was für eine Kindheit, denke ich mir. Nach circa einer Stunde führt der Weg auf eine ungemähte Wiese hinaus. Im trockenen Gras vibrieren tausende Heuschrecken. Das 2502 Meter hohe Eggerhorn lockt zum Weitergehen. Ich kehre um. Beim Mittagessen erzählen mir meine liebenswürdigen Gastgeber, wie das Ernen ihrer Kindheit aussah. Kinder spielten zwischen den Häusern mit Murmeln. Heute sei dies wegen des Verkehrs in den verwinkelten Gässchen nicht mehr möglich. Ich muss an Pasolinis Wehmut denken, die Kinderhorden in seinen Filmen und seinen Abscheu vorm Komfort behäbig gewordener Bürgerlichkeit. Nach dem Essen schneidet Peter Marillen vom Baum. Sie sind süss und köstlich. 

Ich liebe den Balkon und den Blick, den er gewährt. Den ganzen Nachmittag sitze ich hier und mache nichts. Ich mache mir Gedanken. Erneut beschäftigt mich die Einsamkeit. Ernen ist so schön, dass ich es allein kaum fassen kann. Ich möchte die Eindrücke teilen. Es stimmt: Geteilte Momente halbieren nicht, sondern verdoppeln die Intensität. Leben ohne Kompanie ist traurig, Reisen ohne Kompanie ist traurig. Die Telefone mildern die Einsamkeit. Die Fotomanie unserer Tage versucht körperliche Abwesenheiten zu überblenden. Doch so viele Fotos ich durch den Äther schicke, sie ersetzen nicht den fehlenden Freund am Balkon.

Abends findet ein Konzert statt. Die Kirche von Ernen ist bis auf den letzten Platz gefüllt, unter Wahrung der Abstandsregeln selbstverständlich. Eine zierliche und berühmte Sängerin gibt Lieder von Schubert, Gershwin, Lehar und Mahler. Bevor sie zu singen beginnt, wendet sie sich kurz ans Publikum: Es sei eine Freude aufzutreten. Es macht etwas mit mir, ihre Stimme zu hören. Das Klavier begleitet sie hervorragend. Die Sängerin macht nie zu viel. Sie schmettert nicht. Sie scheint tatsächlich zu singen und es ist erleichternd, sie zu hören. Auch Stimmen, so wie Sonnenuntergänge und Küsse, haben eine eigenwillige Präsenz, die sich nicht ohne Verluste einfangen oder aufheben lässt.

Am nächsten Tag ist die Lesung. Aufgrund der Bestimmungen findet sie in einem Garten statt. Die Veranstalter haben es geschafft, am sonnigsten Sonntagvormittag eine erkleckliche Menge Menschen unter ein Zelt, zwischen Apfelbäume und Wäscheleinen zu bannen. Ich freue mich über ihre Anwesenheit und bemühe mich, so gut es geht. Alles läuft gut. Am Nachmittag spaziere ich ins Nachbardorf. Abends setze ich mich auf den Balkon und präge mir alles, so gut es geht, ein.

Auf der langen Rückreise versuche ich mir über die abgelaufenen Tage Rechenschaft zu geben. Das schönste an Ernen war die Schönheit all dessen, was mich umgab. Natürlich besitzt diese Schönheit einen Hintergrund. „Täuschen Sie sich nicht — Ernen ist kein Paradies!“, sagte eine Zuhörerin nach der Lesung zu mir. Mit Hume’scher Skepsis betrachtet, ist uns das klar. Sicherlich ranken sich auch in den Schweizer Bergen dunkle Geheimnisse rund um ärgerliche Machenschaften. Geld und Eigensinn liefern wohl auch in der Schweiz nicht wenige Steinchen fürs Mosaik der Wahrheit. Doch dieser Hinweis beeindruckt mich nicht. Die simple Entzauberung aus neunmalklugen Gründen zieht nicht immer. Zumal dieser Tage, wo wir angeschlagen und bedrückt durchs Leben gehen. Gemäss klassischer Denkungsart partizipiert das Schöne immer am Wahren und Guten. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Ernen so schön ist, weil dieser und jener die Dinge hier mit gutem Sinn betreibt. Wo so süsse Marillen wachsen, wird wohl mit Liebe gepflanzt.

Wien, 6. August 2020, Dominik Barta, Schriftsteller

Bild: Frederike van der Stræten

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