Wenn Töne Gräser bewegen

Die Konzerte im Musikdorf Ernen, die ja hauptsächlich von Juli bis August stattfinden, bieten dem Publikum jedes Jahr ein weit gefächertes Angebot auf höchstem Niveau. Jetzt sollte man aber nicht meinen, die letzten musikalischen Darbietungen, die jeweils Mitte Oktober stattfinden, würden abfallen.

Das Kammerkonzert der Studierenden der Musikhochschule HEMU Valais-Wallis (Sion), das Franz Schubert und Antonín Dvořák gewidmet war, zeigte klar das Potential der jungen Formation auf. Noch in der Ausbildung, haben sie uns engagiert und mit viel Einfühlungsvermögen vorgeführt, zu was sie fähig sind. Das zahlreich anwesende Publikum im Tellensaal dankte es ihnen mit begeistertem Applaus.

Tags darauf spielte die junge Walliser Pianistin Vivien Heinzmann aus Visperterminen. Sie verblüffte uns mit ihrem anspruchsvollen Programm und ihrer Spielfreude. Die Titel der Stücke waren prosaisch. Zum Beispiel vom Franzosen Jean-Philippe Rameau (1683–1764) «Le rappel des oiseaux» oder »La poule » aus zwei Suiten. Dann folgten die 11 Bagatellen op. 119 von Ludwig von Beethoven. Den Schluss machte Maurice Ravel (1875–1937) mit «Miroirs» aus dem Jahre 1905, ebenfalls mit Stücken, die sich titelmässig Rameau ähnelten, wie «Oiseaux tristes», «Une baraque sur l’ocean» oder «La vallée des cloches».

Das dunkelbraun schimmernde, ärmellose, lange Kleid von Vivien Heinzmann passte vorzüglich zu ihrer schlanken Figur. Die blonden Haare offen, ohne dass diese sie beim Spielen beeinträchtigt hätten. Sie setzte sich hin, wirkte etwas scheu und doch zielstrebig, legte nach kurzer Pause die Hände auf die Tasten und begann auf eine Art zu spielen, die uns sofort faszinierte. Auch Nichtprofis merkten schnell, wie schwierig die Kompositionen waren, wie schnell und tonreich.

Die ganze Klaviatur wurde in Anspruch genommen, zum Verschnaufen war keine Zeit und zum Nachsingen sowieso nicht. Es waren keine Gassenhauer. Ihre Hände liefen über die Tasten wie eine vielbeinige Spinne, die verfolgt wird und fliehen muss. Als hätten sich die Schleusen im Hirn geöffnet und die Töne in die Finger gespült, die dann zu Melodien wurden. Und das alles mit einer Eleganz und Leichtigkeit – wie sie ihre Hände von den Tasten nahm, wenn ein Lauf zu Ende war – und man glaubte zu spüren, wie glücklich sie beim Spielen war.

Und das alles ohne Noten. Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Und wie ihr der Applaus fast unangenehm schien, eine Verbeugung und dann ab, durch die Tür, wieder herein, eine Verbeugung und weg war sie. Aber dann doch noch mit einer kleinen Zugabe.

Die «Composer:innen in Residence»

Ja, in der englischen Sprache gibt es nur die männliche Form, nur «the composer» – den Komponisten. Wir hatten dieses Jahr aber in Ernen das grosse Glück, gerade zwei Komponistinnen mit ihrer Musik zu Gast zu haben. Da war einmal die Engländerin Cheryl Frances-Hoad (*1980), deren neustes Streichquartett mit dem Titel «Ernen» in der Kirche uraufgeführt und weitere frühere Werke von drei Formationen im Programm «Newcomers» gespielt wurden. Es waren Werke, die sie als 17-jähirge komponiert hatte, überraschend, tiefsinnig und von einer Dringlichkeit.

Jetzt hörten wir schon Musik von der nächsten Komponistin, die ihren grossen Auftritt dann im Sommer 2026 haben wird: die französisch-schweizerische Claire-Mélanie Sinnhuber (*1973). Sie wurde in Strasbourg geboren und hat in Paris studiert, wo sie auch lebt.

Ihre Musik ist zart wie ihr Name «Claire-Mélanie», klar, vielleicht auch ein bisschen durchsichtig. Mit ihrer sanften Stimme erklärte sie dem Publikum engagiert, wie sehr sie von der Natur inspiriert wird, und wie sie den Gräsern eine Komposition gewidmet hat und eigentlich meistens hauptsächlich die oberen Tasten auf dem Klavier braucht. So kam ihr Streichquartett Nr. 3 «Onze heures et demie dans les herbes» (2024), das vom Ensemble der HEMU Sion intoniert wurde, zur Aufführung.

Vivien Heinzmann hatte gerade zweimal das Vergnügen, sich mit Kompositionen von Sinnhuber auseinanderzusetzen. Einmal spielte sie die «Toccata» (2020), da wurde auch mal das Holz des Flügels, oberhalb der Tasten, eigesetzt, wo die Pianistin mit der linken Hand einen Rhythmus klopfte, der nicht der gleiche war, wie der, den die rechte Hand spielte. Und besonders reizvoll war das kurze Aperçu, das Sinnhuber als musikalischen Raum zwischen die Bagatellen von Ludwig van Beethoven komponierte – unter dem Titel «Papier brouillard» – was nichts anderes heisst, als «Kaffeefilter». Es waren sehr raffinierte Einfälle.

Das Programm zum Schluss des Konzertjahres 2025 in Ernen war vielfältig, erheiternd, unterhaltsam und beeindruckend. Schade für alle, die nicht dabei waren. Aber da gibt es ja das schöne französische Proverb: «Les absents ont toujour tort».

Madeleine Hirsiger, Ernen, 21. Oktober 2025

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