Mel Bonis (1858–1937)
Filmreifes Leben, berührende Musik
Lange Zeit war es die gängige Meinung, Komponieren sei Männersache, und ernstzunehmende Komponistinnen habe es höchstens in Ausnahmefällen gegeben. Doch längst ist klar, dass die Musikgeschichte, wie sie gelehrt und in Konzertprogrammen gehört wird, wichtige Lücken aufweist: Spätestens ab dem 19. Jahrhundert gab es immer mehr Frauen, die sich nicht nur mit Fleiss und Talent, sondern mit der nötigen fundierten Ausbildung, der Kunst des Komponierens widmeten.
Eine von ihnen hiess Mel Bonis. Ihre Werke tauchen in diesem Sommer immer wieder auf in den Konzertprogrammen, denn: Abseits von Quoten oder vereinzelten Anstrengungen will das Musikdorf gezielt und möglichst umfassend eine Komponistin aus der Vergangenheit in den Fokus rücken und zeigen: Es gibt sie schon länger, die Komponistinnen, die ein breites und hochwertiges Gesamtwerk hinterlassen haben, das es endlich auch im Konzertsaal zu entdecken gilt!
Turbulente Biografie
Eigentlich hiess sie Mélanie Bonis. Nach der erzwungenen Heirat mit einem zweifach verwitweten Industriellen stieg sie in das gehobene Bürgertum auf, wo sie als Madame Albert Domange einen Grosshaushalt mit fünf Stiefsöhnen und drei eigenen Kindern führte. Ihre Biografie bietet Stoff für gleich mehrere Filme oder Opern – sie führte zeitweise ein regelrechtes Doppelleben. Mélanie Domange war Familienoberhaupt und Industriellengattin, die Gäste empfing, Angestellte instruierte und mit auf Reisen ging (bis nach Ägypten). Als Mel Bonis war sie Musikerin, komponierte Lieder, Kammermusik, Chor-, Orgel- und Klaviermusik, trat auf als Pianistin und Dirigentin, bemühte sich um die Publikation und Aufführung ihrer Werke und nahm – auch als Jurymitglied – an Wettbewerben teil.
Und: Mit ihrer Jugendliebe, Amédée-Louis Hettich, arbeitete sie an einer Anthologie klassischer Arien. Den Sänger, Dichter, Musikkritiker und späteren Gesangspädagogen hatte sie als 20-Jährige am Konservatorium kennengelernt und komponierte auch Lieder auf Hettichs Gedichte. Doch nachdem er um ihre Hand angehalten hatte, beendeten Mélanies Eltern die Studienzeit ihrer Tochter abrupt. Bonis und Hettich verloren sich aus den Augen, doch als sie sich zehn Jahre später im Pariser Verlagshaus Leduc wieder trafen – beide nun verheiratet –, nahm nicht nur ihre musikalische Zusammenarbeit erneut Fahrt auf, sondern auch ihre Liebe.
Musik als Spiegel der Zerrissenheit
Regelmässig ging Mélanie Bonis zur Beichte und sprach über ihre ausserehelichen Gefühle – ein Ausdruck ihrer streng katholischen Moralvorstellungen, aufgrund derer sie sich den einen ‘Fehltritt’ nie verzeihen konnte: Sie wurde schwanger und gebar 1899 heimlich, nach einigen Monaten im Ausland, die uneheliche Tochter Madeleine und trennte sich sogleich von ihr. Ein Wendepunkt in ihrem Schaffen: Hatte sie sich bis dahin auf Lieder und der Mode entsprechende, leichtere Kammer- und Klaviermusik beschränkt, komponierte sie nun sinnliche, leidenschaftliche Musik, die ihrer emotionalen Zerrissenheit Ausdruck verlieh.
Doch damit ist die bewegende Lebensgeschichte noch nicht zu Ende: Nach dem Tod ihres Ehemannes 1918 konnte Mélanie mehr Zeit mit der unehelichen Tochter verbringen. Als sich aber Madeleine in ihren Halbbruder Edouard verliebte, war die Mutter gezwungen, ihnen die Wahrheit zu enthüllen. Mel Bonis – die ihr Geschlecht seit den ersten Publikationen aus der Studienzeit durch die Kurzform von Mélanie verschleierte – zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und schrieb vor allem geistliche Werke und Orgelmusik.
Im Musikdorf werden von Mel Bonis prägnante Klavierstücke zu literarischen Frauenfiguren, impressionistische Charakterstücke und grosse, spätromantische Kammermusik in der Tradition ihres Mentors César Franck zu hören sein. Und zwar nicht in isolierten Spezialkonzerten, sondern in den grossen Kammermusik-Abenden und Klavierrezitals. Genau dort, wo sie hingehören.
Folgende Werke von Mel Bonis werden 2026 am Festival Musikdorf Ernen aufgeführt:
Samstag, 20. Juni, 17 Uhr | Wendel Quartet
Klavierquartett Nr. 2 D-Dur op. 124
Samstag, 4. Juli, 14 Uhr | Trio Gaspard
Suite orientale für Klaviertrio op. 48
Samstag, 4. Juli, 20 Uhr | Trio Gaspard
Soir – Matin für Klaviertrio op. 76
Sonntag, 5. Juli, 11 Uhr | Trio Gaspard
Soir für Klaviertrio op. 192
Dienstag, 14. Juli, 20 Uhr | Klavierrezital Shio Okui
Phœbé op. 30
Salomé op. 100 Nr. 1
Donnerstag, 16. Juli, 20 Uhr | Klavierrezital Tähe-Lee Liiv
Mélisande op. 109
Desdémona op. 101
Ophélie op. 165 Nr. 1
Samstag, 8. August, 18 Uhr | Kammermusikfest
Suite dans le style ancien für Flöte, Violine, Viola und Klavier op. 127
Mittwoch, 12. August, 20 Uhr | Kammermusikfest
Klavierquartett Nr. 2 D-Dur op. 124
